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Befreiende Erinnerung an vergangene Zeit

Die A13 hat sich gestern im Rheinwald und Misox als Betonschlange fast ohne Nutzen präsentiert – wie letztmals in den Siebzigerjahren.

11.04.20 - 12:59 Uhr
Leben & Freizeit

Er wird einen Platz in den Bündner Geschichtsbüchern finden: der gestrige Karfreitag, 10. April 2020. Doch für einmal nicht mit einem rekordlangen Osterstau auf der A13, sondern als erster «Kar-auto-frei-tag» – als Datum mit dem tiefsten Verkehrsaufkommen seit Jahrzehnten. Der Osterverkehr Richtung Süden hielt sich nicht nur in Grenzen, er zeigte sich in den Morgenstunden von 6.30 bis 11.30 Uhr kaum. Ob in Sufers, im San-Bernardino-Tunnel oder in Roveredo: Die im Laufe der Zeitspanne einer Viertelstunde auf beiden Spuren passierenden Fahrzeuge liessen sich meist an zwei Händen abzählen.

Diese Zeitung zählte während der je 5-minütigen Fahrten durch den Tunnel Richtung Süden um 7.35 Uhr und zurück um 10.20 Uhr total sieben entgegenkommende Fahrzeuge: drei Lastwagen, drei Autos und ein Postauto. Vor wenigen Wochen noch völlig unvorstellbar, aber tatsächlich geschehen: Oft wurde die unmittelbare Umgebung der A13 am früheren Morgen einzig von krächzenden Kolkraben beschallt. Motorenlärm dagegen war minutenlang keiner zu hören. Und falls doch, stammte er nicht selten von ausländischen Brummern. Denen fehlt offenbar die Kenntnis über den Karfreitags-Sonntag, einen der wichtigsten Feiertage der Reformierten Kirche.

Kaum ausserkantonale Autos

Unter anderem wegen der ausländischen Trucker sind bis heute der Kiosk und die sanitarischen Räumlichkeiten der Thusner Raststätte Viamala offen – nicht aber das Restaurant. Über 4000 Gäste hat die Raststätte am Karfreitag 2019 gemäss Geschäftsführer Martin Rohner empfangen. Gestern Mittag ging er davon aus, diesen Karfreitag noch zwischen 150 und 200 Besucher zu zählen. «Es dürfte die Frequenz der letzten Tage werden.» Neben ausländischen Lastwagen und regionalen Handwerkern sind es fast nur noch Bündnerinnen und Bündner, die diese Tage vorbeikommen. Zu Fuss, mit dem Velo oder auf der Durchreise mit dem Auto. So tat es auch der gestrige Blick auf die Schilder der ganz wenigen Autos kund: ein in Deutschland immatrikuliertes Wohnmobil – und sonst ausnahmslos Autonummern mit GR-Kennzeichen. Weit und breit keine Nord- und Ostschweizer-Kennzeichen auf dem Weg Richtung Süden.

«Fast wie autofreie Sonntage»

Eduard Gabathuler, Chef der Regionenpolizei West der Bündner Kantonspolizei, bestätigte diese Beobachtung. Rund zehn Fahrzeuge habe er am frühen Vormittag auf der Autostrasse vom Domleschg nach Grono gekreuzt: «An ein solch niedriges Verkehrsaufkommen kann ich mich nicht erinnern, mit Ausnahme der autofreien Sonntage.» Gabathuler ist 61-jährig – die letzten offiziellen autofreien Sonntage auf den Schweizer Autobahnen datieren im Jahr 1973. Gabathuler zeigte sich gestern sehr positiv überrascht, wie sich die Schweizerinnen und Schweizer «an die Aufforderungen des Bundesrates halten, über Ostern nicht ins Tessin zu fahren.» Dafür gebühre der Bevölkerung ein grosses Kompliment.

Calancatal beliebter Rückzugsort

In Grono kontrollieren die Kantonspolizisten seit Dienstag jene Autofahrer, welche ins Calancatal hochfahren wollen. «Das Calancatal ist ein bei Ruhe suchenden Deutschschweizern beliebter Rückzugsort», sagt Gabathuler. Wie im Tessin oder in Bündner Tourismusdestinationen stehen im Calancatal nicht wenige Ferienhäuser, die als Zweitwohnsitz genutzt werden.

Die Einwohnerschaft des Misox und Calancatals orientiert sich aber nicht nur sprachlich und wirtschaftlich Richtung Tessin. Bellinzona ist auch die erste Anlaufstelle für Spitalaufenthalte aus diesen zwei Tälern. Doch die Betten in den Tessiner Kliniken sind aufgrund vieler am Coronavirus erkrankten Personen fast alle besetzt.

Nur wenige kehren um

Gabathuler dazu: «Wir erklären den Zweitwohnungsbesitzenden im Calancatal diese Situation.» Je weniger Deutschschweizer die nächsten Tage in der Südschweiz verbringen, je besser ist dies für das bereits stark belastete Tessiner Gesundheitswesen. «Wir versuchen darum, die Nicht-Einheimischen zu überzeugen, wieder zurück in die Deutschschweiz zu fahren.»

Gleichzeitig lässt Gabathuler kein Zweifel daran, «dass die Freiheitsrechte in der Schweiz nicht eingeschränkt sind». Will heissen: «Wir appellieren an die Vernunft, können aber niemanden zwingen, umzukehren.» Der Appell und die Bitte von Gabathulers Leuten am Eingang zum Calancatal wurde in den letzten Tagen grossmehrheitlich nicht befolgt. «Immerhin, bei einigen wenigen Autofahrenden aus den Kantonen Zürich und St. Gallen stiessen wir auf Verständnis, die kehrten um und verzichteten auf die Fahrt hinauf.»

Kontrollen an fünf Standorten

Grono ist nicht der einzige Ort, an denen die Kantonspolizei diese Tage Präsenz zeigt. Gemäss Gabathuler finden auch in Rothenbrunnen, Richtung Surselva, Prättigau und Lenzerheide regelmässige Kontrollen statt. «Nicht Nonstop, sondern zu verschiedenen Zeiten über die Ostertage», wie er ausführt. Die Sensibilisierungs-Bemühungen der Kapo gestalteten sich jedoch in diesen Orten nicht wirklich erfolgreich. An jenen Standorten liessen sich gestern kaum Fahrzeuge aufhalten, wie Gabathuler am Nachmittag auf Anfrage sagte.

Hans Peter Putzi ist Redaktor. Er spricht für Radio Südostschweiz, manchmal schreibt er auch für die Zeitung «Südostschweiz» und «suedostschweiz.ch». Besonders gerne recherchiert er, mit Vorliebe in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Sicherheit, Umwelt und Sport. Er ist im hinteren Prättigau aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren im Bündner Rheintal. Mehr Infos

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