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Zeit geben, zuhören und gemeinsam lachen

Als Seelsorger gibt Jörg Büchel den Patienten im Kantonsspital Graubünden seit sechs Jahren vor allem eines: Zeit. Büchel über Grenzen, Schmerzen und Lebendigkeit.

Simone
Zwinggi
24.11.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Auf Augenhöhe: Seelsorger Jörg Büchel im Gespräch mit einer Patientin.
Auf Augenhöhe: Seelsorger Jörg Büchel im Gespräch mit einer Patientin.
PHILIPP BAER

Es ist ein Tag im November: kalt, nass und grau. Im Innern des Kantonsspitals Graubünden lässt man sich vom Wetter nicht anstecken, es herrscht emsige Geschäftigkeit. Mitten im Eingangsbereich ein schlanker Mann mit Bart und einem herzlichen Lachen auf dem Gesicht: Jörg Büchel. «Gehen wir doch in die Kapelle», schlägt er vor. Er geht voraus, steigt im Treppenhaus drei Stockwerke nach oben. Dort befindet sich ein grosser Raum mit einer kleinen Kanzel, vielen Kerzen und in Reihen aufgestellten Stühlen. Vor dem Fenster liegt ein muslimischer Gebetsteppich auf dem Boden. «Das ist der einzige Raum im Spital, in dem man Stille findet», sagt Büchel. «Leider ist er etwas weit von den Patientenzimmern entfernt.» Hier finden jeden Sonntag Gottesdienste statt, bislang reformierte und katholische getrennt.

Grenzenlos

Büchel ist seit sechs Jahren Seelsorger am Kantonsspital. Zuvor war er 20 Jahre lang Dorfpfarrer in Sent. «Ich gebe den Patienten in erster Linie Zeit», erklärt Büchel seine Arbeit. Ob eine schwere Krankheit oder ein Unfall: Büchel bietet ein Gespräch an, fragt «wie geht es Ihnen?» Geht der Patient auf die Frage ein, macht Büchel vor allem eines: zuhören. «Der Patient erzählt mir von sich, und es ist, als ob ich in eine Wolke eintauchen würde. Ich vergesse alles rundherum, höre zu und spüre eine Resonanz seiner Gefühle, seiner Erlebnisse, seiner Schmerzen.» Manchmal werde er gefragt, wie er sich von all den Leiden und Schicksalsschlägen abgrenze, mit denen er im Spital konfrontiert wird. «Aber ich will mich doch gar nicht abgrenzen», sagt Büchel mit Nachdruck. «Ich will mich ganz auf den Patienten einlassen, ihm ganz nah sein, ohne Grenzen.» Ist das Gespräch beendet, tritt Büchel aus dem Raum und damit auch aus der Wolke. Was zurückbleibe, sei oft eine grosse Müdigkeit. «Dann nehme ich mir Zeit, tief durchzuatmen und mich wieder zu sammeln.»

Die Blumen im eigenen Garten

Die Tür zur Kapelle steht offen, immer wieder sind Schritte im Gang zu vernehmen, die Kerzen leuchten in den Tonkugeln durch sternförmige Öffnungen. «Wenn ich mit einem Patienten ein Gespräch beginne, bin ich wie ein Blinder», erklärt Büchel. «'Erzähl mir von Deinem Garten‘, sage ich zu ihm.» Auf diese Weise würde der Patient «die schönen Blumen im eigenen Garten» wiederentdecken, die Schönheit des Lebens wieder erkennen und lernen, mit der schwierigen Situation umzugehen, in der er sich durch einen Unfall oder eine Krankheit befinde.

Immer wieder nimmt Büchel auch die Rolle eines Vermittlers ein. «Der Umgang mit den Patienten gelingt nicht allen Ärzten gleich gut. Einzelne kommen nicht auf die Idee, sich auch einmal auf einen Stuhl neben den Patienten zu setzen und mit ihm auf Augenhöhe zu sprechen», sagt Büchel. Wenn sich der Patient dann nicht traut, Fragen zu seinem Gesundheitszustand zu stellen oder keine verständlichen Antworten erhält, interveniert Büchel. «Meist gehe ich dann auf das Pflegepersonal zu und bitte es, das Anliegen des Patienten zu klären.»

Schubladen

Büchel ist reformierter Pfarrer, seine Arbeit im Spital umfasst auch die Gestaltung von Gottesdiensten. Die Bibel, Jesus, Gott – in seinen Predigten spricht er davon, im Patientenzimmer aber nur dann, wenn es gewünscht wird. «’Wollen wir beten?’, frage ich die Patienten nie von mir aus», so Büchel. «Nur wenn ich merke, dass jemand diese Tradition pflegt.» Welcher Religion oder Konfession jemand angehört, ist für Büchel nicht von Bedeutung. Oft würden sich sehr philosophische Gespräche mit Leuten ergeben, die sich selbst nicht als religiös bezeichneten. «Mit uns können sie wieder einmal über Religion oder Gott diskutieren, ohne gleich in eine Schublade gesteckt zu werden.» Der Umgang mit Leuten hingegen, die einen starken Glauben haben, religiöse Traditionen pflegen und viel darüber wissen – Büchel empfindet diesen als herausfordernder. Diese Menschen teilen ein, ordnen zu, bewerten, wie er festhält. «Ich selbst werde dann auch bewertet: ‘Als Pfarrer musst Du doch von Jesus sprechen’, glauben sie.» Vorstellungen, die Büchel nicht behagen. Er habe auch schon «über den Zaun» geschaut, erzählt Büchel. «Ich habe mich mit Buddhismus, Yoga und atemtherapeutischen Traditionen auseinandergesetzt. Letztendlich wollen wir doch alle dasselbe. Das Leben meistern, seine Schönheit erkennen, gemeinsam wachsen.»

Lebendig sein

Den Patienten im Spital will Büchel helfen, wieder Lebendigkeit zu spüren, Freude am Leben zu haben. Was aber, wenn einmal ihn, der immer ein offenes Ohr für andere hat, Sorgen plagen? «Ich spreche mit meiner Frau über alles, was mich bewegt. Das hilft mir», erklärt Büchel. Ebenso Körper- und Seelenarbeit. Im eigenen Körper und im eigenen Geist immer wieder genau hinhören und hinspüren sei wichtig, um gesund zu bleiben. Und: «Lassen wir uns auf den Schmerz von Verletzungen ein, kommen wir auch wieder in Kontakt mit der inneren Lebendigkeit und Schönheit.»

Dennoch gab es Situationen, in denen ihm seine Arbeit schier unmöglich schien. «Als ich privat eine schwierige Situation zu bewältigen hatte, wusste ich manchmal nicht mehr, wie ich für andere da sein sollte. Ich war voller Auflehnung und verzweifelt – und hätte mich am liebsten verkrochen. Aber arbeiten half, und ich habe dabei sogar das Lachen wieder gefunden.» Im Gespräch mit anderen finde er immer wieder etwas, worüber gemeinsam gelacht werden könne, erzählt Büchel. «Sollte mir das einmal nicht mehr gelingen, beende ich meine Arbeit hier.»

Gemeinsam in die Zukunft

Es ist Mittag, Büchels Teamkollegen treten in die Kapelle, bereiten eine gemeinsame Meditation vor. «Der Austausch im Team ist wichtig. Ebenso, etwas Kultur zu pflegen», sagt Büchel dazu. Seit einiger Zeit arbeiten die katholischen und die reformierten Seelsorger enger zusammen als noch vor ein paar Jahren. Das gefällt Büchel. Beim Blick in die Zukunft bereitet ihm eine Sache aber noch Sorgen: «Es ist noch nicht klar, wo die Kapelle im Spitalneubau platziert wird.» Etwas, das sich bestimmt noch klären wird. Im gemeinsamen Gespräch?

Simone Zwinggi ist Redaktorin bei Zeitung und Online. Nach einem Sportstudium wendete sie sich dem Journalismus zu. Sie ist hauptberuflich Mutter, arbeitet in einem Teilzeitpensum bei der «Südostschweiz» und hält Anekdoten aus ihrem Familienleben in regelmässigen Abständen im Blog Breistift fest. Mehr Infos

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