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Die Geduld der Opfer wird auf die Probe gestellt

Die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen haben Anrecht auf 25 000 Franken. Bei der Glarner Anlaufstelle haben sich 65 betroffene Personen gemeldet. Bis alle ihr Geld auf dem Konto haben, kann es aber noch dauern.

Südostschweiz
11.05.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Anlaufstelle: 65 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Verdingkinder finden den Weg zum Büro von Philipp Langlotz im Spielhof Glarus.
Anlaufstelle: 65 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Verdingkinder finden den Weg zum Büro von Philipp Langlotz im Spielhof Glarus.
SASI SUBRAMANIAM

von Lisa Leonardy und Pierina Hassler

Es ist an der Zeit, dass die offizielle Schweiz etwas tue, «was man allen ehemaligen Verdingkindern und den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen bisher verweigert hat», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga am 11. April 2013: «Für das Leid, das Ihnen angetan wurde, bitte ich Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von ganzem Herzen um Entschuldigung.»

Im gleichen Jahr schuf die Glarner Regierung eine kantonale Anlaufstelle für ehemalige Heim- und Verdingkinder und beauftrage den Anwalt Philipp Langlotz mit deren Betreuung. Mit diesem Mandat hatte er auch den Bericht über die schlimmen Geschehnisse verfasst, die sich 1945 bis 1953 im Kinderheim St. Maria in Diesbach abgespielt hatten. Als das Dossier Anfang 2014 dann publiziert wurde, bat die Glarner Regierung offiziell alle um Entschuldigung, die je von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren.

Über 60 Betroffene aus dem Glarnerland melden sich

Bundesweit haben sich bis zur Frist im März 2018 über 9000 Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Verdingkinder gemeldet. Damit verbunden das Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken. Unter den Antragstellern befinden sich auch einige Glarner. «Wie viele genau einen Antrag eingereicht haben, kann ich nicht sagen», so Anwalt und Mediator Philipp Langlotz. «Bei mir gemeldet haben sich 65 Personen. Einigen habe ich geholfen, den Antrag parat zu machen. Andere habe das selbst in die Hand genommen.»

Für die Auszahlung der Gelder hatte der Bund eine sogenannte Prioritätenordnung erlassen. Die Gesuche von schwer erkrankten Opfern sowie von solchen, die über 75 Jahre alt sind, sollten am schnellsten bearbeitet und ausbezahlt werden. Danach geht es nach Eingang der Gesuche. Diese Prioritätenordnung solle sicherstellen, dass möglichst alle Opfer die staatliche Anerkennung des erlittenen Unrechts sowie die Auszahlung des Beitrags noch erleben können, hiess es aus Bern.

«Auch für einige Glarner Betroffenen war nicht nachvollziehbar, warum sie über zwei Jahre auf das Geld warten müssen. Beschwerden gab es jedoch bisher kaum.»

Philipp Langlotz, Anwalt

Für den Solidaritätsbeitrag hatte der Bund 300 Millionen Franken bewilligt. Als Zeichen der Anerkennung des von den Opfern erlittenen Unrechts und als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. So wie einige andere Kantone und Gemeinden hat auch der Glarner Regierungsrat den Bund mit 150'000 Franken unterstützt. Das Geld wurde dem Lotteriefonds für soziale Zwecke entnommen.

Jedes Opfer hat Anrecht auf 25'000 Franken. Steuerfrei, betreibungsfrei – wie immer es das Geld ausgeben will, so soll es sein. Das Bundesamt für Justiz schreibt in einem Merkblatt sogar explizit, dass der Betrag ausschliesslich für persönliche Zwecke und Bedürfnisse verwendet werden soll. Also sich damit vielleicht einen lang gehegten Traum erfüllen.

Eine seriöse Überprüfung braucht ihre Zeit

Doch viele der Antragsteller warten und warten auf das Geld. Viele wissen trotz fristgerechter Einreichung ihres Gesuchs nicht einmal, ob sie das Geld überhaupt bekommen. «Die Leute stellen das Gesuch, dann folgte eine kurze Empfangsbestätigung aus Bern und dann aus die Maus», sagt Philipp Gurt aus Chur, Autor und Betroffener.

So dürfe man mit den zum Teil schwer gezeichneten und traumatisierten Menschen nicht umgehen. Denn diese tragen ohnehin häufig einen Rucksack voller Ängste, Unsicherheiten und Schuldgefühlen mit sich herum.

Bei vielen der Antragsteller gehe es nicht nur allein ums Geld. «Es steht als Synonym für Anerkennung» so Gurt. Erst wenn der Brief mit dem Text «Wir haben ihr Gesuch geprüft und festgestellt, dass sie ein Opfer im Sinne des Gesetztes sind» beim Empfänger eintreffe, glaube man an die Entschuldigung. «Aber die Betroffenen zwei bis drei Jahre ohne Zwischeninfos auf diesen Brief warten zu lassen, ist grausam», findet Gurt.

«Auch für einige Glarner Betroffenen war nicht nachvollziehbar, warum sie über zwei Jahre auf das Geld warten müssen. Beschwerden gab es jedoch bisher kaum», so Philipp Langlotz. Er hat auch gewisses Verständnis für die Bearbeitungszeit: «Das Geld soll dort ankommen, wo es einen Anspruch gibt. Das seriös zu prüfen, dauert seine Zeit.»

Bis Frühjahr 2020 sollen alle ihr Geld erhalten haben. Die Bescheide, die darüber informieren, ob man Anspruch auf das Geld hat, sollen bis Ende 2019 verschickt werden. Bisher ist Langlotz noch kein Fall bekannt, bei dem der Antrag vom Bund abgelehnt wurde.

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