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Die Renaissance des Stammtisches?

WhatsApp-Gruppen, Snapchat, Instagram oder Facebook – unsere Kontakte pflegen wir im Jahr 2018 oftmals über soziale Netzwerke. Ein Bündner Anwalt, ein Politiker und ein Kantonsangestellter wollen einen Kontrapunkt setzen und haben an den Stammtisch gerufen.

16.02.18 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Der Tisch mit 15 Plätzen hat nicht gerreicht.
Der Tisch mit 15 Plätzen hat nicht gerreicht.
NADIA KOHLER

14. Februar 2018: Ich bin um 18.15 Uhr nicht auf dem Weg zu einem romantischen Valentinstags-Date, sondern betrete ein Churer Restaurant und treffe mich dort mit grösstenteils wildfremden Menschen. Wer denkt, ich hätte mich für Blind-Dates angemeldet, irrt sich. Ich habe vor rund einer Woche eine Einladung zu einem Stammtisch erhalten. Ja, zu einem Stammtisch!

Zunächst irritierte mich der Betreff. Ich dachte kurz, dass es sich wohl um ein Spam-Mail handle. Aber nein, ich wurde tatsächlich zu einem «Fiirobig-Bier» eingeladen. Und nicht nur ich. Die Liste war beeindruckend lang. Viele Namen kannte ich bis dahin wirklich nicht. Ich konnte anhand der Mailadressen allerdings feststellen, dass einige von ihnen Anwälte, Kantonsmitarbeiter oder bei grossen Arbeitgebern im Kanton angestellt sind.

War früher alles besser?

Die weiteren Zeilen im Mail brachten dann vollends die Erleuchtung. In Zeiten von Social-Media-Communitys drohe der persönliche Austausch verloren zu gehen. Dem wolle man entgegenwirken und den direkten Kontakt und Austausch anregen. Glaubt man den neusten Zahlen der Firma xeit GmBH, dann spielt Social Media tatsächlich eine immer wichtigere Rolle in unserem Leben. Gemäss der alljährlichen Social-Media-Studie nutzten 2017 52 Prozent der befragten Schweizer mehrmals täglich Chats in Form von WhatsApp und Co. und weitere 21 Prozent immerhin einmal täglich. Snapchat hat laut den Auswertungen vor allem bei der jüngeren Zielgruppe massiv zugelegt, und auch Instagram und YouTube gehören zu den «Wachstumskönigen».

Ich muss zugeben, dass ich all diese Plattformen selbst rege nutze und viele meiner Kontakte über WhatsApp pflege. Wann ich zuletzt in einer grösseren Gruppe ein kühles Bier nach dem Feierabend konsumiert habe, ist mir tatsächlich entfallen. Und da ich vom Valentinstag nicht viel halte, setze ich mich mit viel Vergnügen an den langen Tisch im Restaurant, wo sich bereits die Fremden und wenige bekannte Gesichter tummeln. Bevor ich mein erstes Getränk vor mir stehen habe, bin ich schon in erste Gespräche involviert und mache Bekanntschaft mit zwei angehenden Anwältinnen.

Klassentreffen einer ganzen Generation

Unter den Anwesenden ist Mitinitiant Remo Dolf, der mir erklärt, dass nach der Arbeit in Chur oft tote Hose herrsche. Und wenn man sich mal treffe, sei dies meist mit Berufskollegen der Fall. «Man hat immer mit den Gleichen zu tun», sagt Dolf mit einem Lächeln. Die Idee sei bereits nach dem Versenden der Mail auf viel positives Feedback gestossen. Trotzdem sei er überrascht, wie viele der Einladung gefolgt sind. Kein Wunder: Der reservierte Tisch für 15 Personen platzt schon nach wenigen Minuten aus allen Nähten. Eine solch rege Teilnahme mache Freude und motiviere den Plan umzusetzen. Einmal im Monat soll in Chur künftig ein Stammtisch organisiert werden.

Dolf prostet mir zu. Wir vertiefen bereits das nächste Thema, und wenn ich mich umschaue, fühlt es sich wie ein grosses Klassentreffen an, auch wenn sich viele zum ersten Mal sehen. Es wird über Jobs, gemeinsame Bekannte und schöne Wohnorte gesprochen. Zu späterer Stunde höre ich gar einer hitzigen Diskussion über Skigebietsverbindungen zu und gehöre um kurz vor 23 Uhr zu den letzten, die das Restaurant verlassen.

Eine Renaissance des Stammtischs mag vielleicht altbacken klingen, ist in Tat und Wahrheit aber eine herrlich erfrischende Idee. 

Remo Dolf im Interview mit Nadia Kohler.
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