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Gewaltig, genial, göttlich

Der Ballett-Star Sergei Polunin hat St. Moritz einen Moment für die Ewigkeit beschert.

Südostschweiz
16.07.18 - 17:25 Uhr
Kultur

Es gibt sie, diese seltenen Momente, in denen man genau weiss: Hier und jetzt entsteht ein Meisterwerk. Am Samstagabend hat St. Moritz einen solch gesegneten Augenblick erlebt. Es haben die Besten zusammengewirkt und eine Kunstform zu ihrer Vollendung gebracht. Wir sprechen hier nicht von einem für die Region beachtlichem Niveau – dafür ist Origen ohnehin ein Garant. Was in der alten Reithalle des Ferienortes passierte, war viel mehr: nämlich schlicht und ergreifend Weltklasse. Nicht nur ein gnädig gewährter Export von den grossen Bühnen in die Provinz, sondern die Erschaffung eines eigenständigen Werks, das wohl nur unter diesen Umständen entstehen konnte.

Jahrhunderttänzer

Dass Sergei Polunin einer der grossen Tänzer unserer Zeit ist, hat sich inzwischen nicht nur unter Ballettinsidern herumgesprochen. Origen-Intendant Giovanni Netzer gelingt es erstaunlicherweise immer wieder, den aus der Ukraine stammenden Ausnahmekünstler, welcher bereits mit 19 Jahren zum Ersten Tänzer des Royal Ballet in London aufstieg, in die Bündner Berge zu holen. Er, der inzwischen als Star rund um die Welt an den führenden Häusern auftritt, findet hier offenbar enorme Inspiration, und mit Yuka Oishi hat ihm Netzer eine kongeniale Choreografin zu Seite gestellt. Polunin bot bisher schon Grossartiges, etwa bei der Eröffnung des Julierturms. Doch was in St. Moritz gelang, hatte noch eine ganz andere Qualität.

Angetreten waren Oishi und Polunin, den legendären letzten Tanz des Waslaw Nijinski im St. Moritzer «Suvretta House» vor 100 Jahren aus der Vergangenheit ins Jetzt zu holen. Das «Sacré du Printemps» sollte es sein, das berüchtigte Werk Igor Strawinskys, mit dem Nijinski einst einen der grössten Skandale der Musikgeschichte ausgelöst hatte. Oishi hatte ursprünglich geplant, dem «Sacré» mit «Paradox» ein separates Stück mit zwei anderen Tänzern folgen zu lassen, und so steht es auch im Programmheft. Doch schliesslich verwob sie das Ganze zu einer zusammenhängenden Dramaturgie. Eineinhalb Stunden lang folgten 200 Zuschauer hautnah und in jeder Sekunde gebannt der inneren Zerrissenheit des Nijinski und deren Äusserung in Kunst und Leben.

Zum Bersten männlich

Zum Anfang verkörperten in Schwarz und Weiss der geschmeidig-agile Jon Bond und der kraftvoll-gespannte Luca-Andrea Tessarini die zwei inneren Pole des Tanzrevolutionärs, der nach seinem St. Moritzer Auftritt 1919 in eine Jahrzehnte dauernde Erstarrung fiel.

Beide Protagonisten erschienen dann wieder im berührenden Epilog, in dem sie in ungeheurer Intensität die Beziehung zwischen Nijinski und dem Ballett-Russe-Erfinder Sergej Diaghilew spielten. Hier setzte Oishi Strawinskys «Histoire du soldat» sowie Klavierkonzerte von Frédéric Chopin ein.

Was in der Reithalle von St. Moritz passierte, war schlicht und ergreifend Weltklasse.

m Hauptteil aber – untermalt von einem Zusammenschnitt der Orchester- und der Pianofassung des «Sacré du Printemps» – nahm Sergei Polunin die Bühne mit seiner vibrierenden Präsenz ein. Zum Bersten männlich und in höchster Präzision ging er physisch und emotional an die Grenzen. Er tanzte wie es seit Nijinski vielleicht nur zwei, drei weitere Tänzer konnten: gewaltig, genial, göttlich. Der Applaus wusste um diesen Moment für die Ewigkeit.

Der Tanzsommer in der St. Moritzer Reithalle

«Unsound» und «Closeness». Ballette über Valsaw Nijinski von Benoît Favre und Emerecan Tanis mit Tänzern des Finnischen Staatsballetts. Aufführung Sonntag, 22. Juli, 15 Uhr.

«Sacré» und «Paradox». Tanztheater von Yuka Oishi mit Sergei Polunin. Weitere Aufführungen Mittwoch, 18. Juli, und Donnerstag, 19. Juli, 19.30 Uhr.

«The Rite», Ballett von Dustin Klein mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts. Freitag, 27. Juli, Dienstag, 31. Juli, Samstag, 4. August, 19.30 Uhr, Sonntag, 29. Juli, 16.30 Uhr.

Tanzworkshop mit Dustin Klein, Sonntag, 29. Juli, 10-14 Uhr.

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