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Ein dunkles Kapitel aufgearbeitet

Im Rätischen Museum in Chur ist gestern die Ausstellung «Verdingkinder reden» eröffnet worden. Sie tourt seit 2009 durchs Land und hat ein grosses Echo ausgelöst. Aufgearbeitet wird ein dunkles Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte.

Südostschweiz
17.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Chur. – Sie wurden fremdplatziert, als billige Arbeitskräfte eingesetzt, ausgenutzt und nicht selten misshandelt. Die genaue Anzahl von Schweizer Verdingkindern, meistens Waisen- und Scheidungskinder, lässt sich heute nicht mehr ermitteln. Man muss jedoch davon ausgehen, dass bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts schweizweit jährlich Zehntausende Kinder nicht in der eigenen Familie aufwachsen konnten.

Willkür und Gewalt

Die Gründe für Fremdplatzierungen waren Armut, Scheidung oder Tod der Eltern, uneheliche Geburt oder «Verwahrlosung». Mit welchen Argumenten die zuständigen Behörden die Wegnahme eines Kindes aber jeweils konkret legitimierten, ist in den meisten Fällen mangels Akteneinsicht ungeklärt. Fehlende gesetzliche Grundlagen und geeignete Aufsichtsorgane sowie ein doppelbödiges bürgerliches Erziehungsideal machten Verdingkinder zu Objekten der Willkür und Gewalt. Für die Gemeinden war es kostengünstiger, die Kinder gegen ein kleines Kostgeld fremdzuplatzieren, als die Familie des Kindes finanziell zu unterstützen. Oft wurden die Kinder einfach jenen Pflegefamilien zugeteilt, die am wenigsten Geld verlangten.Zahlreiche Verdingkinder wurden vom eigenen Vormund nur selten oder gar nie besucht. Von den Pflegeeltern unter Druck gesetzt, konnten viele ihre tatsächliche Befindlichkeit nicht zur Sprache bringen. «Du bist nichts und wirst nichts», wurde ihnen eingebläut. Aus den Gesprächen mit ehemaligen Verdingkindern wird deutlich, dass viele in der Überzeugung aufwuchsen, an ihrer Situation selbst Schuld zu tragen und nichts Besseres verdient zu haben. Verfemungen wurden damit erklärt, dass sie «halt nur ein Verdingkind» waren. In der Angst, in ein Heim gesteckt zu werden, ertrugen sie ihr Leid stillschweigend.Als schwächste Glieder der Gesellschaft konnten sich Verdingkinder also kaum zur Wehr setzen, ihre Stimme zählte in der Regel nichts. Die Ausstellung «Verdingkinder reden – enfances volées. Fremdplatzierungen damals und heute», die seit gestern im Rätischen Museum in Chur zu sehen ist, gibt diesen Menschen eine Plattform, als Subjekte wahrgenommen zu werden und ihre teils traumatischen Erlebnisse mitzuteilen. Mit dem Schweigen ist zugleich das Tabu gebrochen, das lange über der Verdingkinderthematik lag.

Viele Hördokumente

Im Zentrum der Ausstellung stehen Hördokumente, die im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Basel entstanden sind. Bis 2008 wurden rund 280 Interviews mit ehemaligen Verdingkindern geführt, die sich auf einen Aufruf der Fernsehsendung «Schweiz aktuell» freiwillig gemeldet hatten. Unter diesen waren indes nur vereinzelt Personen aus Graubünden. Dies hat gemäss Historikerin Loretta Seglias damit zu tun, dass es hier «keine systematische Kindswegnahme aus armenrechtlichen Gründen gab». Kinderverdingung hat in Graubünden jedoch in Form gewerblicher Wanderungen eine lange Tradition. Bis ins 20. Jahrhundert verliessen jeden Frühling die sogenannten «Schwabengänger» den Kanton, um sich den Sommer über nördlich des Bodensees zu verdingen. Aus den italienischsprachigen Tälern wurden Kinder als billige Kaminfeger («Spazzacamini») nach Norditalien verdingt. Saisonale Verdingung von Kindern auf Bauernhöfe und Alpen oder in die Hotellerie war in Graubünden weit verbreitet. Jenischen Familien allerdings wurden während Jahrzehnten systematisch Kinder weggenommen. (so)

Die Ausstellung dauert bis am 9. Januar 2011.

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