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Die erste Massenauswanderung der europäischen Geschichte

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Südostschweiz
29.01.15 - 01:00 Uhr

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Lokal- und Familiengeschichte in Graubünden «zieht». Obwohl das Rätische Museum den üblichen Vortragssaal der Historischen Gesellschaft Graubünden gegenwärtig für eigene Zwecke beansprucht, pilgerten an diesem Winterabend ausserordentlich viele Churer in den Mehrzweckraum des Staatsarchivs, um einem Referat des Churers und früheren Gemeinderats Conradin Hail über die Auswanderung der französischen Hugenotten nach Europa, nach der Schweiz und auch nach Graubünden am Ende des 17. Jahrhunderts zu lauschen. Denn diese erste grosse Massenauswanderung im modernen Europa, als rund 160 000 französische Protestanten ab 1685 wegen der Aufhebung des Toleranzediktes von Nantes durch König Ludwig XIV. zur Flucht aus ihrem Land gezwungen wurden, hat nicht nur damals die ganze reformierte Welt bewegt. Sie hat auch in halb Europa, in der Schweiz und auch in Graubünden in industriellen Pioniertaten und mit vielen Familiennamen der Nachkommen deutliche Spuren hinterlassen.

So geht die Lancierung der mittlerweile traditionsreichen Schweizer Uhrenindustrie eindeutig auf die Kunstfertigkeit und den Gewerbefleiss dieser Hugenotten zurück, die ihren Namen von der flämischen Bezeichnung «huis-genoot» erhielten. Was so viel bedeutet wie «reformierter Gemeindegenosse» oder «Angehöriger einer evangelischen Gemeinde» – im Gegensatz zur hierarchisch aufgebauten katholischen Kirche.

Auch hinter den bis jetzt bekannten Basler Geschlechtern wie Sarasin oder La Roche stecken die Namen von in diesen Jahren eingewanderten Hugenotten, ebenso hinter dem deutschen Schriftsteller Theodor Fontane und den deutschen Politikern de Maizière. Auch in Graubünden, wohin etwa 700 Hugenotten gelangten, löste diese Massenflucht eine grosse Welle der Solidarität aus. So soll der damalige reformierte Pfarrer von Valendas namens Schucan in einem Jahr 248 Glaubensflüchtlinge aus Frankreich aufgenommen und versorgt haben. In Chur bezahlte der damalige Bürgermeister Johannes Reid eine erkleckliche Summe aus eigener Tasche für die Hugenotten und die evangelische rätische Synode sammelte eifrig für die französischen Glaubensgenossen. In Chur, wo die Hugenotten bald einmal eine eigene Kirchgemeinde mit einem oder gar zwei Pastoren und einem Versammlungsraum bei der Kirche Masans bilden konnten, wurden sie im damals halb leer stehenden ehemaligen Nikolai-Kloster oder bei Privaten untergebracht und für 10 Jahre von Steuern und Abgaben befreit.

Allerdings meldete sich vor allem bei den Churer Zunftgenossen der schwächelnden einheimischen Textil- und Seideindustrie die Konkurrenzangst und sie verweigerten den Hugenotten den weiteren Aufstieg. Von all den französischen Einwanderern gelangte einzig Félicien Papon einmal in den grossen Churer Stadtrat, noch heute steht sein Haus an der Masanserstrasse in der Nähe der Kirche. Und seine Nachfahren hatten das damalige Papon`sche Gut im Besitz, das heute einem ganz anderen Zweck dient. Dort steht inzwischen das Churer Schulhaus Daleu.

Recht zahlreich leben dagegen in Graubünden noch die Nachkommen mit den Namen wie die Thusner Passett, heute auch Basset geschrieben, oder die Palpacoeur und D`Amour, heute Damur geschrieben.

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