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«In der Agglomeration herrscht Aufbruchstimmung»

Die von vielen belächelte Agglomeration sei lebendiger als die überregulierten Städte, sagt der Journalist und Raumplanungsexperte Matthias Daum.

Südostschweiz
25.09.13 - 02:00 Uhr

Mit Matthias Daum* sprach Dennis Bühler

Herr Daum, Paul Schneeberger und Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Siedlungspolitik. Weshalb widmen Sie der Agglomeration jetzt ein ganzes Buch?

Mattias Daum: Weil wir gemerkt haben, dass zwar über die Agglomeration und ihre Bewohner gesprochen wird, aber fast nie mit ihnen. Wir wollten wissen, wie diese 45 Prozent der Schweizer Bevölkerung leben und denken.

Die Agglomeration habe keine Stimme, schreiben Sie. Weshalb kann sie sich politisch nicht bemerkbar machen?

Der Agglomeration fehlt die mediale und politische Lobby, sie ist nicht organisiert. Erschwerend kommt hinzu, dass die politischen Grenzen überhaupt nicht mehr mit den Grenzen übereinstimmen, die das Leben des Einzelnen bestimmen. Der Agglomerationskanton Aargau etwa ist innerlich zerrissen: Die einen fühlen sich zur Stadt Basel hingezogen, andere zur Stadt Zürich.

In Ihrem Buch schreiben Sie: «Irgendjemand hat einen Keil in dieses Land getrieben. Einen Keil zwischen Stadt und Agglomeration. Er teilt die Schweiz in Gut und Böse, in Kluge und Dumme.»

Ein Schlüsselmoment war, als wir eine Familie in der Agglomeration eine Woche lang durch ihren Alltag begleiteten. Die Mutter sagte eines Abends, man müsse sich fast schämen, wenn man sage, man wohne in der Agglomeration. Das ist doch absurd! Aber die Deutungshoheit, was ein gutes und was ein schlechtes Leben und Wohnen ist, liegt in den Städten. Behörden und Bewohner der Städte schauen auf das Umland herab. Sie treiben einen Keil zwischen sich und die anderen. Sie versuchen, ihre Idee des vermeintlich einzig richtigen Lebens aus den Städten in die Agglomeration zu exportieren.

«In der Agglo entscheidet man pragmatisch»

In Koblenz im Kanton Aargau, an der Grenze zu Deutschland hinter Baden und Döttingen, entdecken Sie die «wahre Stadtgrenze von Zürich», 45 Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt. Weshalb gerade dort?

Die Verkehrsanbindung ist heute der wichtigste Faktor. Eine Region nimmt immer dann einen Entwicklungsschub, wenn ein neuer Autobahn- oder ein S-Bahnanschluss eröffnet wird. Koblenz ist der peripherste Ort, den wir gefunden haben, der mögliche Neuzuzüger mit der schwindenden Distanz zu Zürich anzulocken versucht.

Die typische Schweizer Agglomerationsfamilie sei «pragmatisch aus Prinzip», schreiben Sie. Wie ist das gemeint?

Den Bewohnern der Agglomeration ist wichtig, wie es in ihren eigenen vier Wänden aussieht. Sie fragen sich: Wie lange fahre ich von hier zu meinem Arbeitsplatz? Wie gut sind die Schulen für die Kinder? Haben wir einen Balkon oder einen Garten oder ein schönes Erholungsgebiet in der Nähe? Und kann ich mir diese Wohnung oder dieses Einfamilienhaus finanziell leisten? Wenn all diese Punkte stimmen, ist die Ästhetik weitgehend egal. Es spielt keine Rolle, ob sie in Investorenarchitektur aus den Achtzigerjahren ziehen, in einen Block aus den Fünfziger- oder ein Reihenhaus aus den Neunzigerjahren. Auch das Prestige ihres Wohnorts kümmert sie nicht. Steuerfussfetischisten und Seesicht-Süchtige findet man nur in Villen-Gemeinden.

In Ihrem Buch fordern Sie eine Verdichtung und höhere Häuser. Die typische Schweizer Familie aber will im Einfamilienhaus im Grünen leben, also gar keine anderen Menschen über oder unter sich haben. Ein Widerspruch?

Es geht nicht darum, in Koblenz Wolkenkratzer auf die grünen Wiesen zu stellen. Dort braucht es clevere Lösungen, wie etwa Reihenhäuser, um den Menschen auf weniger Platz dieselben Wohnqualitäten zu bieten. Da können die Agglomerationen von den Städten lernen. An zentraler Lage müsste man gleichzeitig radikaler verdichten und in die Höhe bauen. Weshalb sind beispielsweise die Gebäude der Europaallee, dem am besten erschlossenen Standort der Schweiz gleich neben dem Hauptbahnhof Zürich, nicht doppelt so hoch?

In der Stadt Zürich werde bewahrt statt reformiert, kritisieren Sie. Die linke Stadtregierung agiere in raumplanerischen Fragen konservativ, statt etwas zu wagen. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Man könnte von intellektueller Wohlstandverwahrlosung sprechen. Es fehlt Rot-Grün ein Gegenüber als geistiger Sparringpartner. Und es fehlt ganz generell die Lust weiterzudenken. Das betrifft allerdings auch Bern und Basel. Ganz anders in der Agglomeration: Dort herrscht jene Aufbruchstimmung, die Paul Schneeberger und ich in den Innenstädten vermissen. Wir hatten gedacht, in der Agglomeration sei alles kühl und tot, während die Städte spannend und lebendig seien. Doch wir haben gemerkt: Es ist genau umgekehrt.

«In Schlieren hat die Stadt Zürich Zukunft»

Was macht die Agglomeration besser als die Städte?

In der Agglomeration ist nicht alles überreguliert. Es kümmert dort keinen, wenn in den Gartenbeizen Plastikstühle stehen, die der Norm XY des Reglements über Möblierung des öffentlichen Raumes widersprechen, es gibt dort Wirte, die sich über das Rauchverbot hinwegsetzen und trotzdem toleriert werden. In den Agglomerationen hat der einzelne mehr Raum zur Entfaltung. Es mag etwas überheblich klingen, wenn die Gemeinde Schlieren mit dem Slogan «Hier hat Zürich Zukunft» wirbt. Aber diese einjährige Reise durch die Agglomeration hat uns gezeigt: Schlieren hat recht.

* Matthias Daum ist Redaktor im Schweizer Büro der Wochenzeitung «Die Zeit». Mit Paul Schneeberger (NZZ) hat er das Buch «Daheim – Eine Reise durch die Agglomeration» geschrieben, das morgen erscheint.

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