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«Beschneidung von Knaben ist Genitalverstümmelung»

Die Uzner Staatsanwältin Beatrice Giger hat als einzige Schweizer Juristin eine Facharbeit über die Beschneidung bei Knaben geschrieben. Umso gefragter sind darum ihre Erkenntnisse bei der aktuellen Diskussion in Spitälern.

Südostschweiz
16.08.12 - 02:00 Uhr

Mit Beatrice Giger sprach Marc Allemann

Frau Giger, macht sich ein Arzt strafbar, wenn er im Spital im st. gallischen Uznach einen Knaben nach der Geburt beschneidet?

Beatrice Giger: Bei diesem Eingriff handelt es sich um eine einfache Körperverletzung nach Strafgesetzbuch – zumindest wenn der Eingriff nicht medizinisch notwendig ist. Ich möchte aber betonen, dass dies meine Meinung als Privatperson und nicht die allgemeine Auffassung der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen ist.

Sie haben eine Arbeit über rechtliche Fragen bei der Beschneidung geschrieben. Was hat Sie an diesem Thema interessiert?

Ich beziehe mich in meiner Arbeit nicht nur auf die männliche Beschneidung, sondern auch auf die weibliche Genitalverstümmelung. Diese hat in der Regel weitaus gravierendere gesundheitliche Folgen. Beide Beschneidungsformen sind meiner Ansicht nach eine Form der Genitalverstümmelung. Mich hat interessiert, inwieweit Eltern bei der männlichen Beschneidung in grundsätzlich strafbare Handlungen einwilligen und diese Handlungen mit ihrer Einwilligung quasi legitimieren können.

«Beschneidung wurde tabuisiert»

Warum werden Beschneidungen in der Schweiz weiterhin durchgeführt, auch wenn sie strafbar sind?

Das Thema wurde in der Vergangenheit tabuisiert. Es hat noch nie eine Staatsanwaltschaft Anklage nach einer Beschneidung erhoben. Die männliche Beschneidung ist im Gesetz nicht namentlich als Straftatbestand erwähnt. Im Gegensatz zur weiblichen Genitalverstümmelung, die seit Kurzem explizit unter Strafe gestellt ist. Weil die Beschneidung aber unter die einfache Körperverletzung fällt, könnte sie bereits heute bestraft werden. Hier gehen die Meinungen aber auseinander.

Einfache Körperverletzung? Es geht doch bei der Vorhaut nur um ein kleines Stück Haut?

Bei der Beschneidung wird die Vorhaut ganz oder teilweise weggeschnitten. Das ist ein Substanzeingriff in den Körper, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Gemäss Bundesgericht genügt dies, um den Tatbestand der einfachen Körperverletzung zu erfüllen. Auch eine Blinddarmoperation fällt unter die einfache Körperverletzung – nur ist der Eingriff medizinisch gerechtfertigt, und er geschieht unter Einwilligung des Patienten.

Warum ist die Vorhaut wichtig?

Ich bin Juristin, keine Medizinerin. Es ist aber allgemein bekannt, dass die Vorhaut die Funktion hat, die Eichel feucht zu halten. Ohne Vorhaut wird die Eichel widerstandsfähiger und verliert darum an Empfindungsfähigkeit.

Die Rechtskommission des Nationalrats betrachtet die männliche Beschneidung als nicht problematisch.

Juristisch gesehen ist der Fall ziemlich klar: Die Beschneidung erfüllt den Tatbestand der einfachen Körperverletzung. Weil der Eingriff aber gesellschaftlich und politisch akzeptiert wird, droht Eltern und Ärzten derzeit keine Anklage. Als das Kinderspital Zürich vor Kurzem bekannt gab, im Spital wieder Beschneidungen durchzuführen, hat sich die Zürcher Staatsanwaltschaft in diesem Sinne geäussert.

Sie vertreten aber eine andere Meinung als die Zürcher Staatsanwaltschaft und das Kinderspital.

Meine persönliche Meinung ist, dass die Beschneidung im Kindesalter nicht gerechtfertigt werden kann. Der Eingriff kann von den Eltern nicht legitimiert werden. Sie dürfen nicht für das Kind entscheiden.

«Ein Kind wird beeinträchtigt»

Sollte die Staatsanwaltschaft bei Beschneidungen von sich aus einschreiten?

Wenn die Beschneidung, wie beispielsweise in der jüdischen Tradition, an einem wehrlosen Kind durchgeführt wird, sollte meiner Meinung nach die Staatsanwaltschaft eingreifen. Dies wird aber derzeit nicht gemacht.

Für Juden und Muslime gehört die Beschneidung von Knaben zum Glauben. Bei einem Verbot würde man die Religionsfreiheit einschränken.

Die freie Religionsausübung wäre bei einem Verbot tangiert. Aber die Religion ist kein Rechtfertigungsgrund. Ich finde es äusserst problematisch, wenn eine Religion vorschreibt, dass an Kindern eine Körperverletzung vorgenommen werden soll. Ein Kind, das beschnitten wird, wird in seiner körperlichen und psychischen Integrität beeinträchtigt. Im Kindesalter könnte man sich doch mit einem symbolischen Akt begnügen. Ich spreche den Eltern das Recht ab, ihren Knaben ohne medizinische Notwendigkeit genital verstümmeln zu lassen. Ab dem vollendeten 16. Altersjahr ist ein junger Mann urteilsfähig: Er kann die Konsequenzen einer Beschneidung selbst abschätzen.

Uznach. – Beatrice Giger (32) hat 2011 die Masterarbeit «Genitalverstümmelung – Voraussetzungen und Grenzen der Einwilligung» geschrieben. Im Februar veröffentlichte die Fachzeitschrift «forumpoenale» einen Beitrag Gigers zum Thema «Zirkumzision – ein gesellschaftliches und strafrechtliches Tabu». Das Kinderspital stützte sich bei seinen rechtlichen Überlegungen zur Beschneidung auch auf Gigers Artikel. (mal)

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