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Erinnerungen an ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte

Die Brasilianische Stadt Nova Friburgo wurde vor 198 Jahren von Schweizern gegründet, das «Casa Suíça» erinnert an die grösste organisierte Auswanderung der Schweizer Historie. Ein Besuch 150 Kilometer ausserhalb Rio de Janeiros am Tag des «Schokoladenfests».

Südostschweiz
10.08.16 - 15:05 Uhr
Sport

von Kristian Kapp

Der Verkehr staut mehrere Kilometer an diesem Sonntagnachmittag auf der Estrada Friburgo-Teresòpolis. Es scheint, als wolle ganz Nova Friburgo hier sein, bei «Kilometer 18 », wie die offizielle Adresse des «Casa Suíça» an der ansonsten zumeist entlang Naturlandschaften gelegenen Landstrasse zwischen den beiden Städten heisst. Einmal im Jahr ist man sich einen Ansturm gewohnt: Immer, wenn das «Schokoladenfest» ansteht. «Aber so etwas wie heute haben wir noch nie erlebt», sagt Mauricio Pinheiro, blickt auf das emsige Treiben auf dem überfüllten Gelände und den Schlangen vor den Ständen mit Schokolade und Käse und seufzt. «Es sind eigentlich zu viele Leute. Das ist nicht gut, da können wir uns gar nicht um alle kümmern. Und das ist nicht der Sinn.»

Das andere Schweizer Haus
Das Schweizer Haus von Nova Friburgo. Nicht zu verwechseln mit dem Schweizer Haus 150 Kilometer entfernt an der Lagoa in Rio de Janeiro. Das in der Olympiastadt temporäre  ähnelt eher einem kleinen Disney Land mit Schweizer Klischees. Jenes in Nova Friburgo bedient auch diese Sparte, Kuhfiguren und Tellstatue sind vorhanden und willkommene Sujets für Selfies. Aber mit den Fabriken, die Käse und Schokolade im Schweizer Stil herstellen und vor allem dem Museum über die Geschichte Nova Friburgos hat es eine permanente Aufgabe. Pinheiro war hier von 2009 bis 2013 Direktor, heute ist der schweizerisch-brasilianische Doppelbürger Vorstandsmitglied und wieder einmal zu Besuch in seiner Geburtsstadt. Die Anfrage zur Rückkehr kam von der Association Fribourg-Nova Friburgo, dem in der Schweiz domizilierten Mitteilhaber des Hauses. Seit drei Jahren lebt Pinheiro, studierter Museologe, mit Frau und Tochter in Bern und arbeitet in Burgdorf als Papierrestaurator.

Die Besucher drängen zu Tausenden zu den Esswaren, die Arbeiter haben alle Hände voll zu tun, damit alles einigermassen geordnet abläuft. Das Museum hingegen ist nur spärlich besucht, wir nützen die Gelegenheit, im Kühlen ein wenig in ein dunkles Kapitel der Schweizer Historie einzutauchen. «Schweiz, Land des Elends» steht auf einer der Tafeln, die den Rundgang eröffnen. 2006 Schweizerinnen und Schweizer sind dokumentiert, die vor knapp 200 Jahren das Land unfreiwillig verlassen mussten. Wirtschaftskrise und Hungersnot, auch herbeigeführt durch das «kalte Jahr» wegen eines Vulkanausbruchs in Indonesien, der die Schwächung der Sonnenstrahlen auf die Erde und damit Ernteausfälle zur Folge hatte, liessen die Bauern verzweifeln. «Dieses Thema ist heute wieder aktuell», sagt Pinheiro. «Auch Schweizer waren Flüchtlinge, die in ein anderes Land zogen.»

Mehr Thürlers in Brasilien
Die Schweizer Flüchtlinge, die ankamen, trafen auf dem von Portugal zur Verfügung gestellten Gebiet allerdings auf viel freies Land. Die aus zehn Kantonen, vorwiegend Freiburg, gekommenen Schweizer tauften den Ort Nova Friburgo. Im Museum erinnert eine Tafel an ihre über 200 Familiennamen, die bis heute in Brasilien vorkommen. Wermelingers sind häufig, und den Namen Thürler findet man in seinen verschiedenen Varianten mittlerweile öfter als in der Schweiz. Von Nova Friburgo aus verteilten sich die Schweizer bald nach ganz Brasilien. Obwohl die Landschaft an Schweizer Bergwelten erinnert, kamen nicht alle mit dem Klima und den neuen Herausforderungen in der Landwirtschaft klar.
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Nova Friburgo von oben.

Es leben heute noch Leute mit Schweizer Pass in Nova Friburgo. Allerdings sind es nur ein paar Dutzend Familien von Auslandschweizern, die erst in den letzten Generationen auswanderten. Das Schweizer Haus dient jenen Familien, die seit neun Generationen hier leben, als Erinnerung an ihre Wurzeln. Den roten Pass haben sie nicht mehr, die deutsche Sprache sprechen sie ebenfalls nicht. Als Institution versucht das «Casa Suíça» ihnen zu helfen. «Denn es ist hier eine sehr arme Gegend mit vielen Problemen», erklärt Pinheiro und zählt auf: Analphabetismus, übermässiger Einsatz von Pestiziden durch die Kleinbauern mit verheerenden Folgen für Land und Leute, Alkoholismus, häusliche Gewalt – und verschwenderischer Umgang mit Früchten. An diesem letzten Punkt setzt das «Casa Suíça»an. «Wir ermutigen die Leute, die überreife Frucht nicht wegzuwerfen, sondern für Konfitüre und Gebäck zu verwenden.» Bald soll den Bauern beim Verkauf ihrer so gewonnenen Produkte mit Infrastruktur geholfen werden.

«Autonom werden»
Vom Verkauf der selber produzierten Lebensmittel kann sich das vor 20 Jahren gegründete und aus einer Käserei weiterentwickelte Haus mittlerweile finanzieren. «Wir hatten bislang viel Unterstützung aus der Schweiz. Das Ziel ist, komplett autonom zu werden», sagt Pinheiro. Er wird bald wieder in die Schweiz zurückkehren. «Die Reiserei ist anstrengend. Es ist zwar schön, hierherzukommen», sagt Pinheiro und blickt auf das Chaos draussen, vor dem Museum – der Stau auf der Estrade ist auch nicht kürzer geworden, immer noch wollen Hunderte rein. «Aber ich freue mich auf die Rückkehr zu meiner Familie, der Rückkehr in die geordnetere Schweiz.»

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