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«Komm, Luca, atme!
 Lerne, wieder zu atmen, komm!»

Während die Angehörigen des 60-jährigen Patienten auf der IPS des Kantonsspitals Graubünden Abschied genommen haben, wartet die Familie, bis Luca* endlich wieder das Bewusstsein erlangt. Teil 4. 

Südostschweiz
24.03.16 - 10:00 Uhr

von Denise Erni

«Ganz ruhig, Luca*. Beruhige dich, jetzt wird 
alles gut.» Der junge Mann öffnet die Augen, hebt seinen Oberkörper, möchte aufsitzen und sich die Schläuche aus den Venen und dem Mund reissen. Er strampelt, lässt sich nicht beruhigen. Der Zimmermannlehrling hat Kraft. Zwei Intensiv-Pflegefachfrauen versuchen ihn zu beruhigen, sprechen auf ihn ein. «Luca, du bist im Spital in Chur, du hast eine Entzündung des Gehirns. Beruhige dich, Luca.» Er reagiert nicht auf die Worte der Frauen, schaut durch sie hindurch, ins Leere. Sie geben ihm etwas zur Beruhigung, er entspannt sich, fällt zurück aufs Bett, schläft wieder ein. Immer noch wird der 16-Jährige durch die Maschine beatmet. Die letzte Nacht verlief gut, Lucas Wachphasen werden häufiger.

An diesem frühen Freitagmorgen herrscht bereits wieder viel Betrieb auf der IPS. Patrik Vanek, der Leitende Arzt, kommt soeben vom Chirurgierapport zurück, gefolgt von einer Menschentraube in Weiss. Die Chirurgen machen sich gleich selber ein Bild von «ihren» Patienten auf der IPS. Ein schwerverletzter älterer Herr, der schon seit zwei Wochen auf der Station liegt, soll heute Mittag erneut am Bauch operiert werden. Seit wenigen Tagen ist er an der Beatmungsmaschine. Die Intensivmediziner werden dem Patienten heute den Tubus entfernen und ihm mittels eines Luftröhrenschnitts eine Atemkanüle am Hals einsetzen. Ziel dieser Prozedur ist es, dem Patienten die Unterstützung durch das Beatmungsgerät angenehmer zu machen. Mit der Zeit kann der Patient sogar mit dieser Kanüle sprechen und schlucken.

Luca ist verwirrt

Kaum sind die Chirurgen weg, stehen bereits die Internisten auf den Gängen. Auch sie wollen einen Augenschein «ihrer» Patienten nehmen, Luca gehört auch dazu. Der Befund des MRI-Untersuchs vom Vortag ist gut, die Ärzte sehen auch darin keine abnormalen Veränderungen in seinem Gehirn. Die Entzündung scheint sein Hirn nicht verändert zu haben. Luca selber bekommt von den Menschen um ihn herum nichts mit. Erst als sie das Zimmer wieder verlassen haben, richtet er erneut seinen Kopf auf, will seine Hände zum Mund führen. «Ruhig ein- und ausatmen, Luca», sagt Claudia Schäfer, die heutige «Chefin am Bett» zu ihm. Sie legt eine Hand auf seine Brust und mit der anderen streicht sie über seinen Kopf. «Dein Papa hat angerufen, er kommt dich bald besuchen.» Luca ist verwirrt, weiss nicht, wo er ist, er hat offensichtlich Angst.

«… wie beim Landeanflug»

Vanek kehrt nach dem Internisten-besuch an Lucas Bett zurück, schaut auf den Monitor und meint: «Er muss jetzt wieder selber atmen. Komm, Luca, atme! Lerne, wieder zu atmen, komm!» Auf einmal werden auf dem hoch technologischen Gerät, das neben dem Bett steht und ihn beatmet, kleine rote Dreiecke sichtbar. «Diese zeigen an, sobald er selber einen Atemzug nimmt», erklärt Vanek. «Also komm Luca, es geht.» Der Arzt gibt das Okay zur Extubation. Assistenzärztin und Pflegefachfrau machen alles bereit, stoppen die Ernährung durch die Magensonde, legen Sauerstoffmaske und Atemgerät bereit und gehen eine Checkliste mit allen wichtigen Punkten durch. «Wie beim Landeanflug eines Flugzeuges», meint Vanek verschmitzt. Dann geht es ganz schnell, der Tubus wird gezogen, Luca würgt etwas, atmet 
dann aber ohne Hilfe. Er setzt sich auf und reibt seine geschwollenen Augen. Dann legt er sich wieder hin, dreht sich weg. «Lasst mich in Ruhe! Ich möchte mit niemandem sprechen, ich will schlafen», so seine ersten Worte. Vanek und seine Kolleginnen schmunzeln.

Im Zimmer nebenan warten bereits Oberarzt Frank Hillgärtner und zwei Assistenzärztinnen auf Kollege Vanek, um den Luftröhrenschnitt beim chirurgischen Patienten durchzuführen. Der Patient ist bereits narkotisiert, das Operationsgebiet grossflächig und steril abgedeckt. Das Team legt los.

«Wie gegen eine Wand gefahren»

Derweil treffen Lucas Eltern und seine Schwester ein. Sie können es kaum fassen, als sie ihren Sohn und Bruder ohne Beatmungsgerät vorfinden. Sie umarmen, küssen und streicheln ihn, eine erste schwere Last fällt von ihnen. «Letzte Nacht, als ich endlich einschlafen konnte, habe ich geträumt, dass Luca zu Hause auf dem Sofa sitzt und auf uns wartet», erzählt die Mutter später. «Als wir dann kamen, fragte er, wo wir so lange gewesen seien.» Die grösste Angst der Eltern war, dass er sie und seine Schwester nicht mehr erkennt. Doch diese Angst erweist sich als unbegründet. Luca erkennt seine Eltern und seine Schwester.

Es dauert hingegen noch seine Zeit, bis er genau realisiert, was passiert ist und warum er auf der IPS liegt. Fragen stellt er keine, seine Familie erzählt ihm, was geschehen ist. Dass er in der Nacht auf Mittwoch starke Kopfschmerzen und Krampfanfälle hatte, nicht schlafen konnte und sich übergab. Nach zwei Stunden riefen seine Kollegen den Notarzt, der ihn ins Spital nach Scuol einlieferte. «Ich kann mich an nichts erinnern», sagt Luca einige Tage später, als wir ihn treffen (siehe Interview).

Lucas erste Nacht bei Bewusstsein verläuft gut. Schlaf aber findet er keinen. Am nächsten Tag, nach der Visite, wird er auf die Normalstation verlegt. Einige Infusionskanülen stecken noch in seinen Venen, ansonsten ist er schon fast wieder der alte Luca. «Mir kommt es vor, als wären wir gegen eine Wand gefahren», beschreibt Lucas Mutter die letzten Tage. Sie kann die Ereignisse noch nicht richtig einordnen. «Wir sind einfach nur dankbar und glücklich, dass Luca lebt.» Dankbar sei die Familie auch über die wunderbare Unterstützung und Betreuung auf der IPS. «Wir haben uns immer ernst genommen gefühlt und wurden gut informiert.»

Ein paar Tage noch wird Luca im Spital bleiben müssen, einige Untersuchungen werden nochmals wiederholt, das Blut getestet und ein erneutes EEG geschrieben. Man will sicher sein, dass das Hirn keinen Schaden genommen hat. Wenn aber alles gut verläuft, darf er bald nach Hause.

Volle Station am Sonntagabend

Derweil geht der Betrieb auf der IPS weiter. Vaneks Wochenenddienst beginnt ruhig, nach anfänglich voller Belegung können im Laufe des Samstags freie Kapazitäten geschaffen werden. In der Nacht auf Sonntag und am Sonntag selber hat das Team alle Hände voll zu tun. «Wir sind voll», sagt Vanek, als er sich am Sonntagabend um 22 Uhr auf den Heimweg macht. Alle elf Betten sind belegt. Um Mitternacht telefoniert er nochmals mit dem Assistenzarzt auf der Station und geht mit ihm alle Patienten durch. Dann reicht es für einige wenige Stunden Schlaf. Am Montagmorgen um 7 Uhr steht er wieder am gelben Tresen bei der IPS, bespricht sich mit dem Team, geht die Patienten und deren Behandlungsplan durch und schaut, wer verlegt werden könnte. «Platz schaffen.» Seine Dienstwoche dauert noch zwei Tage.

Name von der Redaktion geändert. Lesen 
Sie am Samstag das Interview der Woche mit 
Patrik Vanek. Der Arzt erzählt, wie er selber mit schweren Schicksalen umgeht und 
welche Wunder er erlebt hat. Bereits erschienen: «Wo Leben und Tod nah beieinander liegen» (Ausgabe 21. März) und «‘Es darf doch nicht sein, dass mein Sohn vor mir 
gehen muss?’» (Ausgabe Dienstag, 22. März), «‘Der Junge sollte langsam aufwachen’» 
(Ausgabe 23. März)

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