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«Kinder sind stark – sie müssen nicht stark gemacht werden»

Er ist Deutschland Erziehungspapst schlechthin: Jan-Uwe Rogge. Seit über 40 Jahren schreibt der Deutsche Erziehungsratgeber, hält Vorträge im In- und Ausland und berät Eltern in Erziehungsfragen. 

Südostschweiz
02.11.15 - 17:30 Uhr

mit Jan-Uwe Rogge sprach Denise Erni

Sind die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen noch gleich wie vor 50 Jahren? Mit der «Südostschweiz» sprach Jan-Uwe Rogge über die heutigen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen. Zudem verrät der 68-Jährige, was er von so genannten «Helikopter-Eltern» hält. «Die ständige Überwachung der Kinder hat nichts Vorteilhaftes, engt sie ein und macht sie unselbstständig.»

Herr Rogge, Sie haben einen Sohn. Was waren Sie für ein Vater?

Jan-Uwe Rogge: Ich war ein ganz normaler Vater, so wie jeder andere auch. Ich habe mich immer bemüht und denke rückblickend, dass mein Sohn sehr zufrieden damit war und ist.

Schauen wir etwas zurück: Wie haben sich Eltern in den letzten Jahren verändert?

Ich mache nicht gerne solche Vergleiche unter dem Aspekt Veränderung. Das finde ich wenig passend. Für mich ist viel wichtiger: Was ist ähnlich oder gleich geblieben in den Stärken der Eltern von heute im Gegensatz zu früher und was ist ähnlich oder gleich geblieben bei den Problemen? Man kann nicht immer alles pauschalisieren. Die Eltern geben sich Mühe, versuchen eine Bindung zu ihren Kindern aufzubauen und sie versuchen, ihnen Halt zu geben. Das sind alles Dinge, die früher ähnlich waren.

Heute ist der Begriff «Helikopter-Eltern» weit verbreitet. Eltern, die ihr Kind überall und ständig überwachen, nicht loslassen können.

Ich habe Mühe, wenn Eltern so ein Stempel aufgedrückt wird. Es ist beschreibend und stigmatisierend zugleich. Ich spreche lieber von übervorsichtigen Eltern. Es gibt Eltern, die alles richtig machen wollen. Es gibt Eltern, die den Kindern eigenen Raum und eigene Zeit lassen. Und es gibt auch viele Eltern, denen manches einfach gleichgültig ist. Wir haben heute zwei Pole von Eltern: Die, die alles im Griff haben und überwachen wollen und jene, die den Kindern keine Bindung und keinen Halt geben. Man sollte diese beiden Pole betrachten.

Fehlt es den meisten Eltern an einem «goldenen Mittelweg»?

Meiner Erfahrung nach haben viele Eltern diesen «goldenen Mittelweg» gefunden. Die Eltern, die sich bemühen und den Mittelweg bei der Erziehung ihres Nachwuchses gehen, sind ja in der Mehrzahl.

Hat diese ständige Überwachung und Kontrolle über den eigenen Nachwuchs auch Vorteile?

Nein, ich sehe darin absolut nichts Vorteilhaftes. Diese ständig überwachten und kontrollierten Kinder fühlen sich eingeengt und werden unselbstständig.

Sie führen diese ständige Kontrolle auch auf die Verunsicherung der Eltern zurück. Warum sind Eltern heutzutage so verunsichert?

Die Motive sind sehr vielschichtig. Ein Motiv ist sicherlich auch, dass man sich als Eltern nichts nachsagen lassen muss, etwas versäumt zu haben. Man will alles richtig machen und nur das Beste fürs Kind. Und: Man will es anders machen als die eigenen Eltern. Das sind einige Motive, die für die verschiedenen Eltern Gültigkeit haben. Es gibt sicher unter den «Helikopter-Eltern», um bei diesem Begriff zu bleiben, unendlich viele Motive für ihr Verhalten.

Die Eltern müssten vermehrt an ihrem Selbstvertrauen arbeiten.

Ja. Viel liegt auch in der eigenen Biografie. Als Berater muss ich mit diesen Eltern sehr individuell arbeiten. Patentrezepte helfen da überhaupt nichts, geschweige denn Vorwürfe mit dem Blick von oben herab. Übervorsichtige Eltern muss man ermutigen, loszulassen.

Dann wiederum gibt es auch die Kategorie Eltern, die aus ihrem Kind ein Genie machen möchten.

Diese Eltern haben den Ehrgeiz, alles anders zu machen, als ihre eigenen Eltern. Auch sie wollen sich nichts nachsagen lassen. Viele Eltern versuchen ja auch, sich in ihrem Kind widerzuspiegeln. All das, was sie nicht bekommen haben, versuchen sie nun über ihr Kind zu erleben.

Was wiederum ein enormer Druck aufs Kind ausübt. Wie gross ist der Druck von Kindern und Jugendlichen heute?

Ich habe immer Schwierigkeiten, Kinder als Opfer zu sehen. Kinder sind Subjekte, die sich behaupten können und die auch lernen, mit solchen Drucksituationen umzugehen. Es ist entscheidend, die Kräfte der Kinder zu beachten und nicht ständig von den «armen Kindern» zu reden.

Es stärkt ja die Kinder wiederum, wenn ihnen nicht alle Steine aus dem Weg geräumt werden.

So ist es. Kinder sind stark – sie müssen nicht stark gemacht werden.

Was bleibt heute bei der Kindeserziehung am meisten auf der Strecke?

Dass man die Kinder nicht so annimmt, wie sie sind. Dass man ihnen keine Zeit mehr lässt, sich eigenständig zu entwickeln. Dass man ihnen genügend Raum gibt, um sich auszuprobieren. Darauf sollte viel stärker geachtet werden.

Was wird unterschätzt?

Dass Erziehung nicht nach Plan verläuft. Die Wirkung von Erziehung ist immer wirkungsunsicher. Du weisst nicht, was herauskommt. Mit dieser Einschätzung umgehen zu können, ist im ganzen Erziehungsprozess etwas sehr Zentrales.

Aber genau diese Unsicherheit, dass man nicht weiss, was herauskommt, macht vielen Eltern doch auch Angst.

Wenn ich als Eltern sicher bin, dass diese Ungewissheit dazugehört, dann brauche ich keine Angst davor zu haben. Dann kann man damit umgehen. Es macht dann erheblich Angst, wenn ich meine, alles im Griff zu haben. Das den Eltern zu vermitteln ist das Zentrale.

War früher alles besser?

Ich bin mit der Aussage, «Früher war alles besser und heute ist alles schlimmer» sehr vorsichtig. Gerade in Familienbeziehungen. Das ist eine Illusion. Halten Sie sich nur einmal vor Augen, wie viele Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Vater aufgewachsen sind und wie viele Väter traumatisiert aus dem Krieg zurückgekommen sind. Wir sollten aufhören, eine vermeintliche Grossfamilie vor 100 Jahren gegen eine Familie von heute auszuspielen. Die Grossfamilie, wie es sie heute gibt, gab es damals in dieser Form noch gar nicht, weil die Grosseltern viel früher gestorben sind. Kinder haben heute dank der höheren Lebenserwartung der Menschen viel mehr von ihren Grosseltern als Kinder von früher. Man sollte eine vermeintlich tolle Vergangenheit, nicht gegen eine schlechte Realität ausspielen.

Wie wichtig ist in Zeiten von Patchwork-Familien eine intakte Familie fürs Kind?

Eine Patchwork-Familie kann auch eine intakte Familie sein. Wenn man unter intakt nur Vater, Mutter, Kind(er) versteht, hat man eine sehr eingeschränkte Sicht einer intakten Familie. Dann wird man der familiären Wichtigkeit der heutigen Zeit nicht mehr gerecht. Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Eine intakte Familie, die den Kindern Nähe vermittelt, ist sehr wichtig.

Sie beraten sei über 40 Jahren Kinder und Eltern. Welche Frage wird Ihnen am meisten gestellt?

Das kann ich so nicht sagen. Es sind unendlich viele Fragen, die mir gestellt werden. Zu mir kommen Eltern aus allen sozialen Schichten mit den unterschiedlichsten Fragen und Bedürfnissen.

Was ist das Schöne an Ihrem Beruf?

Es ist schön, wenn man nach vielen Jahren auf Eltern trifft, die man einmal beraten hat und die einem dann erzählen, wie sehr meine Tipps geholfen haben. Das Ergebnis meiner Arbeit macht sich sehr schnell bemerkbar.

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