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Das kleine Häuschen beim Steinbruch Tiergarten in Mels: Poesie des Zerfalls

Ein Kollektiv aus Künstlerinnen und Künstlern blickt liebevoll auf ein in sich zusammenfallendes Häuschen bei Mels – mit dabei sind auch Bündner Sichtweisen.

Bündner Woche
10.05.24 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Haus des Anstosses: der ehemalige Pausenort der Arbeiter beim Steinbruch Tiergarten in Mels.
Haus des Anstosses: der ehemalige Pausenort der Arbeiter beim Steinbruch Tiergarten in Mels.
Ariane Pochon/ Richtig & Gut

von Cindy Ziegler

Windschief steht es da. Es sieht aus, als würde es jeden Moment in sich zusammenfallen. Brechen unter der Last der Jahrzehnte. Man könnte es auch verwahrlost nennen. Zurückgelassen. Vielleicht sogar hässlich. Oder aber man blickt anders darauf. Liebevoll. Zärtlich. Künstlerisch. Dann sieht man Geschichten. Das Leben. Die Schönheit des Zerfalls. Genau diese Blicke hat ein Kollektiv von Künstlerinnen und Künstlern auf das kleine Häuschen beim Steinbruch Tiergarten in Mels geworfen. Entstanden ist daraus vieles. Ein Buch, Gesprächsrundfahrten und ein Film. Vielmehr aber vielseitige Verbindungen zu dem Häuschen, das gefühlt einfach schon immer da war. 

Viele schenken dem Häuschen keine Beachtung. Sie rauschen daran vorbei – im Zug oder auf der Autobahn. Für manche ist es ein Wegpunkt. Ein Zeichen, dass man bald zu Hause ist oder ebendieses verlässt. Nur ganz wenige halten an und steigen aus. So hat es Andrea Keller getan. Die Künstlerin hat sich dem Häuschen angenommen. Und viele Weitere sind dem Aufruf gefolgt – dabei einige, die auch die Kantonsgrenze zwischen St .  Gallen und Graubünden überwunden haben. So die Autorinnen Romana Ganzoni und Martina Calouri, der Historiker Christian Ruch, der Schauspieler Gian Rupf und der Illustrator Mich Hodler. Sie alle haben sich dem Häuschen angenommen. 

«Das Häuschen war einfach schon immer da»
Martina Calouri, Autorin

«Das Häuschen war einfach schon immer da», meint Martina Calouri bei der Vernissage des Projekts «Oh Darling, du zerfällst mir sehr». Auch Romana Ganzoni sagt, sie könne die erste Erinnerung nicht genau benennen. Eher sei es ein Erinnerungsfluss, der zur Fahrt nach Zürich gehört. Mich Hodler kennt das aus anderer Perspektive. Heute wohnt er in Davos, erinnert sich aber an das Häuschen als Wegpunkt für die Ferien in Graubünden. Christian Ruch meint, er habe das Häuschen bis zum Projekt gar nicht wahrgenommen. Anders Gian Rupf. «Ich wollte schon vor ein paar Jahren dem Häuschen ein filmisches Langzeitprojekt widmen. Aber irgendwie habe ich den Faden nie aufgenommen. Als Andrea das dann tat, wollte ich unbedingt Teil des Projektes werden. Ehrlich gesagt, war Mels für mich sonst ein weisser Fleck. Als Bündner wirst du beim Pizolpark abgefangen. Weiter kommt man nicht», erklärt er und grinst.
 

Bündner Beteiligung (von links): Gian Rupf, Christian Ruch, Romana Ganzoni, Martina Calouri und Mich Hodler bei der Vernissage.
Bündner Beteiligung (von links): Gian Rupf, Christian Ruch, Romana Ganzoni, Martina Calouri und Mich Hodler bei der Vernissage.
Ariane Pochon/ Richtig & Gut

Das Häuschen, der Steinbruch, zu dem es gehört, und der Stein, der wiederum in diesem abgebaut wird, haben eine lange Geschichte. Seit 170 Jahren ist der Steinbruch in den Händen der Familie Ackermann. Heute führen Andreas und Janine Ackermann-Wildhaber den Betrieb in der sechsten Generation. Wie alt genau das schiefe Häuschen ist, ist nicht bekannt. Die Ackermanns schätzen aber, dass es sicher 100 Jahre alt ist. Es diente den Arbeitern (es waren ausschliesslich Männer) als Pausenort. Und als Lagerplatz für Maschinen und anderes, das gerade nicht gebraucht wurde. Überbleibsel davon sind heute noch sichtbar. Jedoch nur von Aussen – oder auf Fotos der Fotografin Ariane Pochon. Es ist eine Zeitreise.

Dimensionen der Vergänglichkeit

Noch weiter in der Zeit zurückreisen müssten wir, wenn wir dem Verrucano auf den Grund gehen wollten. Dem Stein, der viele Farben annimmt, sich aber meist rot bis violett zeigt. Neben siliziklastischen Sedimentgesteinen enthält er auch Gesteine vulkanischen Ursprunges. Der Verrucano ist etwa 260 Millionen Jahre alt. Das Projekt «Oh Darling, du zerfällst mir sehr», das sich auch mit Vergänglichkeit befasst, erhält durch ihn noch eine ganz andere Dimension. 

Zurück in die Gegenwart und an die Vernissage. Die Projektbeteiligten aus Graubünden stehen zusammen und kommen schnell ins Gespräch. Das Häuschen verbindet. Und es berührt sie alle irgendwo tief drin. Es ist vertraut und charmant. «Es ist ein armes Häuschen und man will etwas für es tun. Auch wenn man weiss, dass es eigentlich zu spät ist», meint Romana Ganzoni. Irgendwie gebe es viel zurück, so Martina Caluori. Die Verbindung von Mensch und Haus ist allgegenwärtig. Die Vergänglichkeit vom Gebäude lässt sich übertragen. 
 

Verrucano: 250 bis 300 Millionen Jahre altes Gestein, das die Ackermanns seit 170 Jahren im «Tierget» abbauen.
Verrucano: 250 bis 300 Millionen Jahre altes Gestein, das die Ackermanns seit 170 Jahren im «Tierget» abbauen.

«Ich bin nun 57 Jahre alt. Und ich spüre den Zerfall jedes Jahr ein bisschen mehr. Das ist brutal, aber es beruhigt mich auch ein bisschen. Denn niemand kann das aufhalten», sagt Gian Rupf. Und Zerfall sei auch etwas Schönes. Nicht nur beim Häuschen, sondern auch bei Menschen. Falten, Runzeln, alte Hände, die von einem Leben erzählen. «Das ist doch wahnsinnig schön. Wie eine lebende Giacometti-Skulptur», meint der Schauspieler. Die anderen steigen schnell ins Gespräch ein. «Der Zerfall hat ja auch etwas Lebendiges inne», ergänzt Martina Calouri. Romana Ganzoni spricht von radikaler Anerkennung und dass es nach der Auffächerung der Metaphern, die das zerfallende Gebäude bietet, am Schluss immer um die eigene Endlichkeit geht. «Das ist, was uns berührt.»

Neben dem Buch, welches aus journalistischen und literarischen Beiträgen besteht, ist auch ein Film von Raphael Zürcher entstanden. Zudem werden noch bis zum 12. Mai Gesprächsrundfahrten durchgeführt. Es sind Erinnerungsreisen zum Häuschen, aber auch zu sich selbst. Bei der Vernissage werden dazu Fragen an die Leinwand projiziert:

Was zerfällt alles in dieser Zeit, in der wir leben? Erinnerst du dich an deine erste Zahnlücke? Nach welchem (Neu)-Anfang sehnst du dich? Wie gehst du mit Zerfall und Vergänglichkeit um? Stöberst du gerne in Brockenhäusern? Was magst du an alten Dingen? Was möchtest du unbedingt noch erleben? Wann kann Zerfall schön, sogar poetisch sein? Was brauchst du, um loslassen zu können? Schaust du beim Vorbeifahren auch immer, ob das alte Häuschen noch steht? Forever young … Was geht dir dabei durch den Kopf? Wie gelingt es, in Würde zu altern? Was kommt nach dem Tod? Wer oder was vermisst du aus früheren Tagen?
 

Das Häuschen von der A3 aus: Rund 40 000 Motorfahrzeuge rasen täglich an ihm vorbei, dazu kommen noch Dutzende Züge.
Das Häuschen von der A3 aus: Rund 40 000 Motorfahrzeuge rasen täglich an ihm vorbei, dazu kommen noch Dutzende Züge.
Ariane Pochon/ Richtig & Gut

Beschäftigt man sich mit dem Häuschen, dann geht es recht schnell recht tief. Das erzählen die Autorinnen, der Historiker, der Schauspieler und der Grafiker. Während ihrer Arbeit für das Projekt wurden sie gar von eigenen Gedankengängen überrascht. Sex Pistols als Road-Trip-Musik. Eine Liebesgeschichte, die mit dem Häuschen in Zusammenhang steht. Die Übertragung von Haus zu Mensch. Oder einfach, wie man anders über Bekanntes nachdenken kann, das man scheinbar doch gar nicht so gut kennt. 

Alles in allem führen diese Gedanken auch zur Gretchenfrage: Wann ist etwas vergessen? Verschwunden? «Wenn man nicht mehr davon spricht», meint Gian Rupf. «Wenn man nicht mehr daran denkt», präzisiert Romana Ganzoni. Dafür, dass das dem Häuschen nicht passiert, hat das Projekt gesorgt. «Und dass man als Figur irgendwann verschwindet, ist doch tröstlich», so die Autorin. 

«Oh Darling» erleben

Das Buch zum Projekt ist an den Veranstaltungen in Mels und beim Literaturfestival «Die Rahmenhandlung» am 1.6. in Zürich zu kaufen. Ausserdem ist es auch in folgenden Buchläden erhältlich: Buchladen Bad Ragaz, Never Stop Reading (Zürich) und im Sarganser Buchladen. 

Der Film von Raphael Zürcher wird am Wochenende vom 11. und 12. Mai noch jeweils von 11 bis 18 Uhr im Rathauskeller in Mels gezeigt. 

Die Gesprächsrundfahrten im alten Mercedes finden ebenfalls an jenem Wochenende ab 11 bis 18.30 Uhr immer zur vollen Stunde statt. Tickets gibt es auf der Projekt-Webseite.

www.oh-darling.ch

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