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Die Geschichte eines Missbrauchs

Am Donnerstagabend liest der Bündner Autor Philipp Gurt aus seiner Autobiografie vor. Darin schildert er unter anderem seine Erlebnisse mit sexuellem Missbrauch durch Erzieherinnen. Im Jahr 2010 erzählte Gurt seine Geschichte erstmals öffentlich der Zeitung «Südostschweiz».

Südostschweiz
08.12.16 - 11:05 Uhr
Kultur

Um 19.30 Uhr präsentiert Philipp Gurt sein Buch «Schattenkind - Wie ich als Kind überlebt habe» im GKB Auditorium in Chur. Das Buch handelt von seinen Kindheits- und Jugendjahren, welche durch fürsorgerische Zwangsmassnahmen geprägt waren. Gurt wurde innert zwölf Jahren in verschiedenen Kinderheimen untergebracht, in die Psychiatrie eingewiesen und sexuell missbraucht.

Im März 2010 erzählte Gurt seine Geschichte zum ersten Mal öffentlich «Südostschweiz»-Redaktor Stefan Bisculm. Damals noch anonym.


«Als Waisenhäusler war man Freiwild»

 

Missbrauch und Gewalt an Kindern ist nicht allein ein kirchliches Problem. Das weiss der 42-jährige Thomas* aus schmerzlicher Erfahrung. Als Kind erlebte er im Waisenhaus Chur Gewalt und sexuelle Übergriffe.

von Stefan Bisculm

Der letzte Heimleiter des Churer Waisenhauses ist vor fünf Jahren verstorben. An der Beerdigung hielt Thomas vergebens Ausschau nach den Kollegen, die damals in den Siebziger- und Achtzigerjahren zusammen mit ihm im Waisenhaus der Churer Bürgergemeinde lebten. «Als ich nach der Beerdigung bei ehemaligen Heimkindern anrief und mich nach dem Grund für ihr Fernbleiben erkundigte, spürte ich bei allen eine ‘Riesenwolle’. Sie meinten nur, sie seien froh, dass er verreckt sei.»

Der 42-jährige Thomas ist heute stolzer Vater und erfolgreich im Beruf. Zu sehen, wie viele seiner Kollegen unter ihrer Kindheit im Waisenhaus leiden und ihnen die alten Geschichten immer noch «wie eine Kralle im Genick sitzen», schmerzt ihn sehr. «Ihre Wut richtet sich vor allem gegen das System und die erzwungene Heimplatzierung. Der Heimleiter dient ihnen in erster Linie als Blitzableiter, denn neben all seinen Fehlern hatte er auch gute Seiten.»

Vom Regen in die Traufe

Wenn Thomas über seine Vergangenheit spricht, gibt er sich versöhnlich und betont immer wieder, wie wichtig es sei, vergeben zu können. Dabei hätte er genügend Gründe, um nachtragend zu sein. Als Dreijähriger wurde er wegen zerrütteter Familienverhältnisse zwangsweise von den Behörden in einer Pflegefamilie untergebracht. Nach wenigen Monaten sorgte seine damals 16-jährige Schwester dafür, dass er von dort wegkam, weil er von den Pflegeeltern regelmässig windelweich geprügelt, in einen engen Ölkeller eingesperrt und ihm manchmal auch das Trinken längere Zeit verweigert wurde.

In der Folge kam Thomas als Vierjähriger ins Waisenhaus, wo er zehn Jahre lang blieb. Der Umzug ins Waisenhaus war der sprichwörtliche Gang vom Regen in die Traufe. Als er fünf Jahre alt war, missbrauchte ihn eine Betreuerin, indem sie sich von dem Knirps vaginal befriedigen liess. Thomas hat im letzten Jahr Kontakt zu der Frau aufgenommen und sie mit ihren Taten konfrontiert. In einem Brief, welcher der «Südostschweiz» vorliegt, entschuldigt sie sich für «diese mir nicht begreifbare Tat des sexuellen Missbrauchs (...) Ich bin eine Kinderschänderin, ein Monster und dennoch Mensch.» Thomas erinnert sich an zwei weitere Betreuerinnen, die sich ähnlicher Vergehen schuldig machten.

Die Schafe hatten es besser

In dem Brief gesteht die Frau weiter ein, in Momenten der Überforderung oft zugeschlagen und die Kinder an den Haaren gezerrt zu haben. Daran jedoch kann sich Thomas nicht erinnern. Die Schläge, die sich in sein Gedächtnis einbrannten, erhielt er vom verstorbenen Heimleiter, einzelnen Erziehern und älteren Waisenkindern. «Für uns war es normal, geschlagen zu werden. Doch wir schlugen auch zurück, wann immer wir konnten.» Fürsorglich sei der Heimleiter vor allem zu den Schafen gewesen, die er auf dem Hof des Waisenhauses hielt. «Ein Schaf hätte man sein müssen», meint Thomas heute lakonisch.

An die höchst fragwürdigen Erziehungsmethoden des Heimleiters kann sich auch eine heute 52-jährige Frau erinnern. Sie wurde von ihm während eines Mittagessens ins Gesicht geschlagen, sodass ihr das Blut aus der Nase in die Suppe tropfte. «Hinterher zwang der Heimleiter mich, die Suppe mitsamt dem Blut aufzuessen.»

Die ehemalige Waisenhausbewohnerin klagt vor allem gegen die Behörden, die seinerzeit nichts gegen die herrschenden Missstände unternommen hätten. Mehr als einmal sei sie beim Sozialamt der Stadt Chur vorstellig geworden, doch passiert sei nichts. In der Verantwortung steht auch die Churer Bürgergemeinde als Betreiberin des früheren Waisenhauses. Wie Vizebürgermeister Christian Clement gegenüber der «Südostschweiz» erklärt, war niemand aus dem aktuellen Bürgerrat seinerzeit im Amt. «Wir nehmen die Vorwürfe aber sehr ernst und bieten Hand zurAufklärung.» Um die Vorfälle sauber aufarbeiten zu können, bittet er die Betroffenen, sich bei der Bürgergemeinde zu melden.

Thomas hatte während seiner Kindheit stets das Gefühl, dem System ausgeliefert zu sein. «Als Waisenhäusler war man Freiwild, auch in der Schule.» Diese Lektion lernte er bereits in der 1. Klasse, als ihn ein Turnlehrer an den Haaren die Treppe hochschleppte und dabei «verdammter Waisenhäusler» schimpfte. Von seinem Vormund konnte er ebenfalls keine Hilfe erwarten. Als er als 14-Jähriger immer wieder aus dem Waisenhaus ausriss, gab der Vormund – den Thomas sonst nie zu Gesicht bekam – seine Einwilligung zur Einweisung in eine geschlossene Jugendhaftanstalt. Thomas hat in der Folge weitere ähnliche Institutionen kennen gelernt. «Überall gab es vor allem unter uns Insassen viel brutale Gewalt.» Narben auf seinem Körper, die von einer Messerattacke herrühren, belegen dies heute noch eindrücklich.

Betreuer hatten auch zu leiden

«Alle Kinder sind bereits vor ihrem Eintritt in ein Heim durch schwierige familiäre und persönliche Hintergründe geprägt», gibt Thomas zu bedenken. «Die Potenzierung all dieser schwierigen Fälle in einem Heim macht die Arbeit für die Betreuer extrem schwierig. Sie hatten massiv unter Gewalttaten ausgehend von uns Jugendlichen zu leiden. Ihm Nachhinein frage ich mich oft, wer eigentlich für den körperlichen und geistigen Schutz der Betreuer zuständig war.»

Thomas will nicht nur anklagen. In seiner Kindheit habe er auch Schönes erleben dürfen, betont er. Sehr gut sind ihm etwa zwei Betreuungspersonen in Erinnerung geblieben, die aktive Christen waren und sich ehrlich um ihn kümmerten. «Ich bin mit mir und der Welt im Reinen. In all den Heimjahren habe ich mir immer gesagt, irgendwann wird alles ein Ende haben, und so kämpfte ich weiter, bis heute. Vieles, was ich erleben musste, machte mich stärker und sensibler. Ein Opfer zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, der Schwächere zu sein.»

*Thomas ist Philipp Gurt

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