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Episode 3: Todesangst

Thomas erzählt den Mitgliedern der Bergexpedition, dass der Weltuntergang immer ein persönlicher ist – und warum die Atomkatastrophe Mühleberg im Jahr 2018 nicht so schlimm war.

Südostschweiz
30.07.16 - 11:50 Uhr
Kultur

von Flurin Jecker*

Das Beste ist ja: Dass die Menschen denken: Dass alles, was uns gilt: allgemeingültig ist», sagt Thomas, während er versucht, mit einer Hand den Reissverschluss seiner Jacke zu öffnen. Da es ihm nicht gelingt, klemmt er seinen Gehstock unter den Arm, damit er beide Hände frei hat. «Wenn es heiss ist, zum Beispiel, sagen wir: Es ist heiss.» Einer lacht. «Was ja durchaus Sinn macht», sagt Thomas. «Doch muss man sich im Klaren sein: Dass es niemals heiss war. Und niemals kalt sein wird. Und so einfach das in euren Ohren klingen mag, wenn ihr mir denn überhaupt zuhört: Könnte euch diese triviale Erkenntnis eure Angst ersparen: Also diesen Ausflug, oder wie ihr das hier nennen wollt.»

Thomas zurrt den Reissverschluss wieder hoch. «Was ich damit sagen will, ist: Dass der Weltuntergang, von dem ihr so Angst habt: Niemals ein Weltuntergang, sondern nur euer Weltuntergang sein wird. Und zwar dann, wenn euer Herz aufhören wird zu schlagen: So einfach ist das.

Es war ja eigentlich immer schon nichts als die Angst vor dem Tod. Und die mir aberwitzigste Methode gegen diese Schreckensangst schien mir stets, dem Tod so nahe zu kommen wie möglich, solange man noch am Leben ist. Vorzusterben, quasi. Was natürlich ein riesiger Irrsinn ist. Die Ich-Auflösung zum Beispiel. LSD. Dass die Hippies ihre Realität und also auch sich selbst auflösten. Was natürlich immer nur eine reine Halluzination und keine Wirkliche metaphysische Angelegenheit war. Dass sie also meinten, in ihrem High, dass der Tod ebensolche Farben und Formen, eine solche Glückseligkeit mit sich bringen wird, wie das LSD. Worüber man heute nur noch lachen kann. Weil man ja weiss, wie man immer wissen wird, dass der Tod weder Farbe noch Form, und schon gar kein Glück mit sich bringen, sondern sich genau dies zu sich holen wird. Ohne Gegenleistung.

Und darum ist es ja verständlich, dass die Leute also schon freiwillig vorsterben wollen, bevor der Tod sie holt. Doch weiss ich, dass niemand, am allerwenigsten die Spiritualisten selbst, daran glauben, dass dieser Versuch der Ich-Auflösung mehr als gespielte Pseudoautonomie ist.»

«Zum Beispiel Mühleberg», sagt Thomas. «Bern, 2018: Muss ich euch ja nicht erzählen. Auch wenn die damaligen Umweltorganisationen natürlich sagten: Sie hätten es ja gesagt: Dass früher oder später eine Katastrophe eintreten wird. Dass also Mühleberg explodieren und Bern auslöschen wird. Dass sozusagen die Katastrophe eintreten und Bern, das sicher ein schönes Städtchen war, für immer verstrahlt werden wird. Wobei schön ja noch zu definieren wäre.

Aber was ich euch sagen will, ist: Dass zwar ärgerlich war, dass inklusive Spätfolgen wie Organversagen, Fehlge-burten et cetera, rund 100 000 Menschen starben. Gerade: Da das Kernkraftwerk Mühleberg ein Jahr später hätte abgeschaltet werden müssen. Doch auch wenn Bern nun noch weitere 12 000 Jahre unbewohnbar bleiben wird, wie wir Menschen ja zu sagen pflegen: Ist, eigentlich, überhaupt nichts Schlimmes passiert. Die Berner: Und das hat jetzt nichts mit ihrer Art zu tun: Haben ihr Stadtterrain ja komplett und andauernd besetzt gehabt. Wenige Jahre nach der Katastrophe übernahmen die Hasen und Birken das Gelände. Und wie ihr das seht, weiss ich jetzt nicht: Dass ich aber Birken weniger mögen würde als Menschen: kann ich ebenso wenig mit Sicherheit sagen, wie dass ich Menschen weniger mögen würde als Hasen. Also bin ich eigentlich guten Mutes: Was auch immer geschehen mag.»

* Flurin Jecker: geboren 1990 in Bern, arbeitet nebenher als freier Journalist für den «Bund» und als Velokurier.

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Ein Episodenroman

Zum Jubiläum des zehnjährigen Bestehens des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel schreiben zehn Studierende exklusiv für die «Südostschweiz» eine 24-teilige Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel «Die Alpen im Jahr 2216». 

Seit seiner Gründung hat das Literaturinstitut, das zur Hochschule der Künste Bern HKB gehört, über hundert Absolventen des Bachelorstudiengangs «Literarisches Schreiben» hervorgebracht, darunter erfolgreiche junge Autoren wie Arno Camenisch, Silvia Tschui oder Michael Fehr. Als Dozent von Anfang an dabei ist der Bündner Autor Silvio Huonder, der auch diese Reihe betreut.

Alle anderen Teile findet man unter www.suedostschweiz.ch/alpen2216

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