Armut hat ein Geschlecht
In der Schweiz ist jede fünfte Person im Alter von Armut betroffen, ein Grossteil davon sind Frauen – warum?
In der Schweiz ist jede fünfte Person im Alter von Armut betroffen, ein Grossteil davon sind Frauen – warum?

von Laura Kessler
Das ganze Leben lang gearbeitet, pensioniert und arm. Was plakativ klingt, ist Realität für 250'000 Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz. Sie sind von Altersarmut betroffen – 170'000 von ihnen sind Frauen. Armut im Alter ist weiblich. Heute und auch in den kommenden Jahrzehnten.
1195 Franken pro Monat
Von Armut in der Schweiz ist dann die Rede, wenn eine Einzelperson weniger als 2279 Franken im Monat aufbringt. Die minimale AHV-Rente beläuft sich jedoch lediglich auf 1195 Franken pro Monat. Von der AHV lebt man nicht. 218 900 pensionierte Personen bezogen deshalb im Jahr 2020 Ergänzungsleistungen – Frauen mehr als Männer. Die Absicherung im Alter ist nicht die AHV, es sind die zweite und dritte Säule. Diese können nur angespart werden, wenn einer Erwerbsarbeit nachgegangen wird und dies im hohen Prozentbereich. «Unser Sozialverischerungssystem ist darauf ausgelegt, dass man 100 Prozent arbeitet», sagt Susanna Mazzetta, juristische Mitarbeiterin bei der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann des Kantons Graubünden. 100 Prozent Lohnarbeit, das ganze Erwerbsleben lang. Niemand muss lange suchen, um Personen zu finden, die diesem Anspruch nicht nachkommen können oder wollen. Viele von ihnen sind Frauen.
Eine Frau zu sein, ist ein Risiko
Und da sind wir beim Problem. Eine Frau zu sein, ist ein Risiko. Migrationshintergrund, ein tiefes Bildungsniveau und geschieden zu sein sind weitere Risikofaktoren in Bezug auf Altersarmut. Wie kommt’s, dass es unter Umständen genügt, eine Frau zu sein, um im Alter zu wenig finanzielle Ressourcen zu haben, um in Würde zu leben?
«In unserer Gesellschaft ist Arbeit nicht gleich Arbeit», sagt Susanna Mazzetta. Die sogenannte Care-Arbeit, sprich die unbezahlte Haus- und Familienarbeit, wird in Bezug auf die Altersvorsorge nicht als Arbeit angesehen. Care-Arbeit wird zu 60 Prozent von Frauen erledigt. «Es ist ganz einfach: Durch Care-Arbeit baut man sich in unserem System keine Altersvorsorge auf», so die Juristin. Komme noch eine Scheidung hinzu – die aktuelle Scheidungsrate liegt im Kanton bei 34 Prozent, also jede dritte Ehe – sei es einer Frau, die hauptsächlich unbezahlte Arbeit verrichtete, kaum mehr möglich, die Lücken in der Altersvorsorge zu schliessen. «Wir haben eine immer strengere Rechtsprechung vom Bundesgericht, was mit Frauen passiert, die sich der Familie widmen und nachher geschieden werden. Diese Frauen haben schlichtweg keinen Schutz mehr und werden auf den Arbeitsmarkt geworfen. Wir haben aktuell Strukturen, die für Frauen existenzgefährdend sind», ergänzt Susanna Mazzetta.

Mit diesen Umständen werden die sogenannten Babyboomer-Jahrgänge (1946 bis 1964) zu kämpfen haben. Einige von ihnen sind bereits pensioniert, andere werden es in den kommenden Jahren sein. Eine Generation, in der Frauen noch nicht von der gleich hohen Bildung profitierten wie Männer. Eine Generation, die vermehrt das traditionelle Familienmodell lebte: Der Mann geht arbeiten, die Frau bleibt zu Hause. Susanna Mazzetta glaubt deshalb, dass auch in Zukunft mehr Frauen auf Ergänzungsleistungen im Alter angewiesen sein werden. Kommt hinzu, dass die Scheidungsrate bei den Babyboomern im Kanton auf knapp 40 Prozent angestiegen ist. «Wir konnten beobachten, dass die Scheidungen eher spät kamen, das heisst bei Paaren um die 50. Die Frauen hatten so kaum mehr die Chance, die Pensionskasse anzusparen. Das wird in den nächsten Jahren einschenken.» Einschenken, finanziell, dem Staat, der Gesellschaft. Hinzu kommt, dass Menschen, die für zehn Jahre und länger nicht in ihrem Beruf tätig waren, kaum mehr auf dem früheren Berufs- oder Ausbildungsniveau einsteigen können.
Was muss passieren, damit Frausein kein Risikofaktor im Alter ist? «Klar ist, unsere Gesellschaft ist nicht in der Lage, die Care-Arbeit zu bezahlen», sagt Susanna Mazzetta. Deshalb müsse die anfallende unbezahlte Arbeit gleichmässig auf alle Schultern verteilt werden. «Die Konsequenz davon ist, dass Frauen mehr Freiheit und Zeit haben, bezahlte Aufgaben zu übernehmen. Diese Verschiebung geht aber zu langsam vonstatten, definitiv», sagt sie. Zudem, so Susanna Mazzetta weiter, müssten Anreize geschaffen werden.
Unser Sozialversicherungssystem ist in die Jahre gekommen. Es baut immer noch darauf auf, dass ein Teil der Beziehung, hauptsächlich der Mann, 100 Prozent arbeitet und der andere Teil, hauptsächlich die Frau, höchstens einer Teilzeitarbeit nachgeht. Auch unser Pensionskassensystem greift nur bei hoher Erwerbstätigkeit. Kommt hinzu, dass die geltenden Steuerregelungen für verheiratete Paare nicht attraktiv sind. Verdienen beide, fallen sie möglicherweise in die kalte Progression. «Das sich aktuell auf Bundesebenen in Vernehmlassung befindende Individualsteuerrecht würde helfen, um vor allem Frauen dazu zu animieren, ins Erwerbsleben einzusteigen», sagt Susanna Mazzetta. Würde die Individualbesteuerung auch auf Kantonsebene greifen, wäre das Potenzial noch höher, ist sie überzeugt.
«Frauen müssen auch in der Liebe lernen, Position für sich einzunehmen.
Susanna Mazzetta, Stabstelle für Chancengleichheit von Mann und Frau
Frauen müssten sich bewusst sein, was es bedeute, wenn sie die Rolle der Hausfrau und Mutter übernähmen. «Diese Arbeit wird von der Gesellschaft nicht entlohnt», so Susanna Mazzetta. Die Entscheidung hat entsprechend Auswirkungen auf die Altersvorsorge. Deshalb ist sie überzeugt, dass Frauen lernen müssen, zu verhandeln. «Auch in der Liebe. Sie müssen lernen, Position für sich einzunehmen.»
Das tun immer mehr Frauen, beziehungsweise setzen sich immer mehr junge Paare für eine Gleichverteilung von Care- und Erwerbsarbeit ein. Das hängt auch mit dem Bildungsniveau zusammen, das bei jungen Frauen und Männern gleich hoch ist. Auch spielt der Fachkräftemangel eine Rolle. «Wir können es uns als Gesellschaft nicht mehr leisten, auf die Frauen in der Wirtschaft zu verzichten», so Susanna Mazzetta. Die künftigen Generationen würden sich leichter tun, meint sie weiter. Generationen, in denen Frauen und Männer Teilzeit arbeiten, gleich viel Care-Arbeit leisten und familienergänzende Angebote in Anspruch nehmen. Das Leben wird flexibler und individueller. Deshalb, so Susanna Mazzetta, brauche es ein System, das sich verschiedenen Lebensphasen anpasse. «Wenn das System berücksichtigen würde, dass es Lebensphasen gibt, in denen weniger oder mehr gearbeitet wird, könnte das vieles erleichtern und hätte keinen negativen Einfluss auf die Altersvorsorge.» Und, so sagt sie zum Schluss: «Es soll belohnt werden, dass jemand unbezahlte Arbeit leistet. Denn das ist eine Leistung an der Gesellschaft.»