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Mord im Klöntal (5/8): Das Gift im Magen des Toten

Der Chemiker aus Zürich meldet: Im Magen des toten «Staldengarten»-Wirtes war Morphium. Steht Verhörrichter Tschudi in der neuen True-Crime-Folge kurz vor der Lösung des rätselhaften Falles? 

Ueli
Weber
18.11.24 - 04:30 Uhr
Glarus
Eine Süchtige ist sie wahrscheinlich, aber ist sie auch eine Mörderin? Maria Stüssi lässt sich immer wieder von ihren Ärzten Morphium verschreiben. 
Eine Süchtige ist sie wahrscheinlich, aber ist sie auch eine Mörderin? Maria Stüssi lässt sich immer wieder von ihren Ärzten Morphium verschreiben. 
Illustration Ueli Weber/Dall-E

Was bisher geschah: 1882 verschwindet «Staldengarten»-Wirt Andreas Stüssi eines Nachts spurlos und wird Tage später nackt im Fluss Löntsch bei Riedern angeschwemmt. Verhörrichter Jacques Tschudi stösst bei seinen Ermittlungen auf eine verschwiegene Familie, ein schwieriges Eheleben, verdächtige Geschäftspartner des Mannes und einen früheren Geliebten der Frau. Alle bisherigen Folgen könnt ihr hier nachlesen.

Am 9. Dezember 1882 lesen die Glarnerinnen und Glarner in der «Neuen Glarner Zeitung» Folgendes: «Letzten Mittwoch Abends spät wurde Frau Stüssi zum ‹Staldengarten› in Riedern, Witwe des vor einiger Zeit als Leiche im Löntsch aufgefundenen Gastwirt Andreas Stüssi, nebst einer erwachsenen Tochter und einem Sohn verhaftet. Die Veranlassung hiezu gab der vom Kantonschemiker in Zürich, welchem der Magen und Gedärme des Verunglückten zur chemischen Untersuchung übersandt worden waren, eingelangte Bericht, wonach im Magen Morphium gefunden worden und mithin auf Vergiftung geschlossen werden müsse. Die verhaftete Witwe soll nun nachweisbar im Besitz von Morphium sich befunden haben.

Die öffentliche Meinung hatte sich in diesem Falle von Anfang an mit seltener Einstimmigkeit für die Annahme eines Verbrechens ausgesprochen, die Ergebnisse der gerichtsärztlichen Untersuchung und die aufgenommenen Verhöre sollen aber zu wenig Anhaltspunkte zum Einschreiten geboten haben. Zu begrüssen wäre es im höchsten Grade, wenn der Schleier über den geheimnisvollen Vorgang gelüftet und Licht in die Sache gebracht werden könnte.»

Morphium zum Einschlafen

Andreas Stüssi hält zu Lebzeiten wenig von Ärzten. Selbst gegen seine juckende Haut lässt er sich eher widerwillig behandeln. Seine Frau Maria hingegen hat eine engere Beziehung zu den Ärzten in Glarus. Sie sind so etwas wie ihre Dealer, würde man heute wohl sagen. 

Wenn ihr Kopf schmerzt, wenn sie Unterleibsschmerzen hat oder an einer entzündeten Blase leidet: Maria Stüssi nimmt Morphium und Opium zu sich. Ausserdem helfen ihr die Mittel beim Einschlafen. Manchmal reichen ihr die Kinder die Pülverchen und Maria Stüssi döst eingehüllt von der wohligen Wärme ihres Bettes im «Staldengarten» oben weg. 

Wie Verhörrichter Jacques Tschudi beim Nachfragen bei Ärzten erfährt, hat Maria Stüssi diese Medizin mindestens seit 1879 verschrieben bekommen, also seit drei Jahren. Genug Zeit, um davon abhängig zu werden. 

Ihr Morphium bezieht Maria Stüssi bei den Apothekern in Glarus. Dabei holt sie es nie selber aus der Apotheke. Sie schickt ihre Töchter Regula oder Margaretha in die Stadt, um dort die Pulver zu holen.  Verhörrichter Tschudi hört sich bei den Apotheken um.

Maria Stüssi schickt ihre Kinder in die Stadtglarner Apotheken, um dort «Schlafpulver» zu holen. 
Maria Stüssi schickt ihre Kinder in die Stadtglarner Apotheken, um dort «Schlafpulver» zu holen. 
Bild ETH-Bildarchiv

Wie sich herausstellt, hat Maria Stüssi beträchtliche Mengen Morphium bezogen. Offenbar reicht Maria Stüssi die von den Ärzten verschriebene Menge nicht aus. Tochter Regula sagt etwa aus, sie habe letzten Sommer drei oder vier Schlafpulver bei Apotheker Luchsinger geholt. Dabei habe sie vorgegaukelt, der Zahnarzt habe diese der Mutter verordnet, was aber nicht stimmte.

Apotheker Greiner will sich erinnern, dass einmal eine Tochter und einmal ein Knecht für Maria Stüssi Opiumpulver holte.

Das Morphium verschreibt Doktor Krüger auch ohne Untersuchung

Drei Wochen vor dem Verschwinden ihres Vaters besorgte die zweitälteste Tochter Margrith bei Apotheker Luchsinger eine grössere Menge Morphium für ihre Mutter. Wie sich herausstellt, hat Doktor Krüger dieses verschrieben – jener Arzt, der Stüssis Leiche obduzierte, ohne deren Mageninhalt zu untersuchen.  Tschudi lädt den Arzt sofort ins Verhöramt vor. Dieses Mal als Zeugen. 

«Sie sollen des Andreas Stüssis Witwe wiederholt Medikamente verabreicht haben. Wollen Sie Näheres darüber angeben?» 

«Frau Stüssi hatte im Winter 1879 Schmerzen, weshalb ich ihr damals Opium oder Morphium verordnete. Frau Stüssi liess später um die gleichen Pulver bitten, weil sie wieder Schmerzen hatte. Sie verlangte jährlich ein bis zweimal die gleichen Pulver.» 

«Erinnern Sie sich nicht genau, ob Sie Opium oder Morphiumpulver verabreicht haben?» 

«Nein, aber höchstwahrscheinlich Morphium. Die Wirkung ist übrigens bei beiden dieselbe.» 

«Für welche Krankheit haben Sie die Pulver verabreicht?»

«Ich glaube, sie beklagte sich über Schmerzen im Unterleib, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Eine Untersuchung nahm ich bei ihr nicht vor.» 

«Wie viele solche Pulver würden genügen, einen Menschen bewusstlos zu machen?»

«Ein Pulver ist schlafmachend, zwei Pulver sind die höchste Einzeldosis. Ich glaube, dass ein gesunder Mensch alle Pulver auf einmal nehmen könnte und dabei nur in einen bewusstlosen Zustand kommen würde, ohne davon sterben zu müssen.» 

«Haben Sie mit Frau Stüssi über die Wirkung der Pulver geredet?»

«Nein.»

Ob die Sache mit dem Opium einen Einfluss auf Krügers Schlüsse aus der Leichenschau hatte, fragt Tschudi nicht. Er schickt aber schleunigst Landjäger Jakober in den «Staldengarten». Er soll nach den Opiumpulvern suchen. 

Maria Stüssi drückt dem Landjäger im «Staldengarten» die 20 Morphium-Pulver in die Hand, die ihre Tochter bei Apotheker Luchsinger geholt hatte. Sie sind alle noch da. Falls Andreas Stüssi vergiftet wurde, musste es mit etwas anderem als diesen Pulvern geschehen sein. Wobei sie diese ja über die Zeit durchaus hätte horten können. Als die Landjäger das Haus später auf den Kopf stellen, finden sie noch zwei Pulver in einer Schublade. Maria Stüssi behauptet, sie müsse diese dort verlegt haben. 

Die Tatnacht

Selbstmord mit Gift schliesst Tschudi aus, dazu scheint Andreas Stüssi nicht der Typ gewesen zu sein. Ausserdem hätte man seine Leiche zu Hause gefunden, wenn er sich vergiftet hätte. 

Eine Vergiftung erklärt aber, weshalb sie im Haus keine Spuren eines Kampfes gefunden hatten, falls Stüssi ermordet wurde. Und sie erklärt, weshalb die Leiche nackt war: Stüssis Kleider sind ihm nicht vom Wasser des Löntsch weggerissen oder von seinem Mörder ausgezogen worden. Stüssi war nackt, weil er sich wie üblich vor dem Schlafengehen ausgezogen hatte, bevor er blutt unter die Bettdecke schloff. Und aus ebendiesem Bett haben ihn sein Mörder oder seine Mörder in der Nacht herausgezerrt, während Stüssi ihnen wehrlos ausgeliefert war, weil er vom Morphium ganz oder halb betäubt war. Vielleicht stammte das Blut auf der Strasse davon, dass sein Rücken aufschürfte, als man ihn über die Strasse schleifte. Vielleicht wachte er auf und sie schlugen ihn ohmächtig. 

Jedenfalls schleppten sie Andreas Stüssi zum Fluss und warfen ihn dort ins tiefe Tobel hinab, wo ihn der reissende Löntsch verschluckte. «So wäre auch die Richtigkeit des gerichtsärztlichen Schlusses ‹Tod durch Ertrinken› nahe gelegt», schreibt Tschudi in seiner Theorie zum Tathergang. 

Der Tatort: Verhörrichter Tschudi glaubt, Andreas Stüssi sei erst vergiftet worden und dann nachts aus seinem Bett im Erdgeschoss des «Staldengartens» gezerrt worden. 
Der Tatort: Verhörrichter Tschudi glaubt, Andreas Stüssi sei erst vergiftet worden und dann nachts aus seinem Bett im Erdgeschoss des «Staldengartens» gezerrt worden. 
Archivbild Hans Bühler

Die Flasche Schnaps auf dem Tisch

Tschudi denkt an die angebrochene Flasche Schnaps zurück, die am Morgen nach Stüssis Verschwinden laut Maria und ihren Töchtern auf dem Tisch stand. Morphium hatten sie darin keines gefunden. Ausserdem hätte es wohl eine ziemliche Menge Morphium gebraucht, um eine ganze Flasche damit zu versetzen. Wenn man das Morphium aber in einem einzelnen Glas konzentriert, braucht es deutlich weniger. Und ein solches ist schnell ausgewaschen. 

Tschudi hat seine Verdächtigen ausgemacht: «Durch Drittleute konnte das Gift nicht wohl beigebracht worden sein, denn an jenem Abend hatte er ja mit Niemand als den Eigenen gemeinsam getrunken und war ja schon frühe zu Bette gegangen.» Bleibt die Familie. 

Tochter Regula Stüssi sitzt bei der Familie Sigrist in der Stube und übt Zither spielen, als sie verhaftet wird. Sohn Fridolin holen sie aus der Abendschule. Die Mutter Maria Stüssi führen die Landjäger aus dem «Staldengarten» ab.

Verhörrichter Tschudi glaubt jetzt, er sei nah dran an der Lösung des Falles. Er irrt sich. 

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland. Mehr Infos

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