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Eine Welt für sich - Corinna S. Bille und C.F. Ramuz

S. Corinna Bille in «Venusschuh» und C.F. Ramuz in «Die grosse Angst in den Bergen» erzählen, wie schrecklich einsam es in entlegenen Bergtälern früher sein mochte.

Agentur
sda
25.02.20 - 10:38 Uhr
Kultur
Der Schweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz an seinem Arbeitsplatz in Pully bei Lausanne, aufgenommen am 15. Dezember 1945. (Archiv)
Der Schweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz an seinem Arbeitsplatz in Pully bei Lausanne, aufgenommen am 15. Dezember 1945. (Archiv)
Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR

Die Schriftstellerin S. Corinna Bille (1912-1979) war zeitlebens eine Nomadin zwischen dem Walliser Talgrund und den entlegenen Bergdörfern in den Seitentälern. Sie kannte beide Welten, in denen trotz ihrer geographischen Nähe je eigene Gesetze galten.

«Venusschuh»

Auch ihre Heldin Bara ist eine Grenzgängerin, die freilich unter unglücklichem Stern lebt. Am Tag ihrer Hochzeit mit dem «Meister», dem Schreiner im Dorf, flieht sie zurück ins Tal, um wenig später demütig zurückzukehren. Die Flucht macht sie zur Aussätzigen in der verschworenen Gemeinschaft. Zugleich scheint sich alles Tun und Gerede um sie zu drehen.

Wie Bara ist auch Martin Lomense ein Auswärtiger. Ein Zufall hat ihn ins entlegene Dorf geführt, wo er den Winter verbringt. Unschlüssig, was er hier will, beobachtet er das Leben der Menschen, ihre stummen Gesten, das nächtliche Wispern auf der Dorfgasse.

Martin Lomense nimmt wahr, was er sehen und hören kann. Dass sich das Eigentliche ihm verbirgt, stört ihn nicht. «Er schätzte das Geheimnis der Welt», denn in «der Geduld empfand er eine grössere Freude als im Wissen». Mit ihrer kunstvoll behutsamen Sprache, die lieber andeutet als preisgibt, folgt ihm darin die Autorin.

Zeitlos schöne Prosa

Das Mysterium ist S. Corinna Billes rätselhaft zeitlosem Buch förmlich einbeschrieben. Es wird darin nichts erklärt und nichts beglaubigt. Martin Lomense fischt aus der seichten Rhone eine Frau, die daraufhin ungerührt ins entlegene Tal zurückkehrt. Stumm folgt er ihr. Im Dorf wird er gleichermassen ungefragt wie fraglos ein Teil der verstockten Gemeinschaft.

Es geschieht, was geschehen muss. Beklommen fragt Bara einmal: Glauben Sie ans Schicksal? Es gibt keine Gründe, es nicht zu tun. Bara erlebt es am eigenen Leib. Sie bleibt die Ausgestossene, an der die Dorfgemeinschaft ohne Reue ihre Rache vollzieht.

S. Corinna Billes «Venusschuh» von 1952 ist ein faszinierendes Buch, das sprachlich eine Atmosphäre schafft, in welcher sich Entbehrung, Gemeinschaft und archaische Tradition auf natürliche, sinnfällige Weise verbinden.

«Die grosse Angst in den Bergen»

Vergleichbares lässt sich von C.F. Ramuz' dramatischer Erzählung «Die grosse Angst in den Bergen» sagen. Der Titel lässt keine Zweifel offen. Im Schatten der Gipfel herrschen mysteriöse Mächte, die sich nur mit Demut und Gottesvertrauen bändigen lassen.

Charles-Ferdinand Ramuz (1878-1947) geniesst heute Bekanntheit wegen der verfilmten Romane «Farinet» und «Derborence» sowie seiner Präsenz auf der 200-Franken-Note. Seine Nähe zu den Bergen findet in dem 1927 erschienenen Roman den vielleicht radikalsten Ausdruck. «Die grosse Angst in den Bergen» oszilliert auf schillernde Weise zwischen Mythos und Moderne.

Jung gegen Alt

Auch bei Ramuz vollzieht sich ein schicksalhaftes Geschehen, allerdings sind die Täter nicht nur in der Dorfgemeinschaft und ihren Traditionen zu finden. Als die Jungen durchsetzen, dass die fruchtbare Alp Sasseneite wieder bestossen werden soll, überstimmen sie den Widerstand der skeptischen Alten. Vergeblich erinnern diese an die grauenhaften Ereignisse vor 20 Jahren.

Sie sollten bald Recht bekommen. Der Alpsommer hat kaum begonnen, als einer der sieben Sennen gespenstische Schritte auf dem Dach vernimmt - genau wie damals. Dann wird der jüngste der Sennen krank und die ersten Kühe zeigen Anzeichen der Seuche. Es wird keine Rettung geben.

Die Rache der Berge

Wofür rächen sich die mächtigen Berge? Sind es menschlicher Frevel und die Gier nach Gold und Geld? Ramuz gibt keine klare Antwort. Er bleibt blosser Chronist des Geschehens, das sich mit archaischer Macht vollzieht.

Deren unbeugsamen Kräften stellt er einen erstaunlich beweglichen Chronisten gegenüber, der auf verblüffende Weise über alle Mittel des modernen Erzählens verfügt. In ihrem Nachwort schreibt Beatrice von Matt von «Erzähltechniken, die an Kubismus erinnern».

Ramuz zerstückelt das reale Geschehen und collagiert es Szene um Szene neu zusammen. Dabei variiert er permanent Perspektiven und Positionen, aus denen berichtet wird. Der Erzähler spricht gerne von einem vagen «wir», um sich gleich wieder hinter einem «man» zu verbergen. Er schaut tief in die Seele der Protagonisten und zieht sich eilends wieder ins Ferne zurück.

Zwei Bücher für die Geschichte

Das Geschehen oszilliert zudem stetig zwischen Gegenwart und Vergangenheit, als ob die grammatikalischen Zeiten hier keinerlei Rolle spielten. Was kompliziert klingt, liest sich freilich erstaunlich leicht und lebhaft. Die Leser und Leserinnen werden unweigerlich mit in die Ambivalenzen zwischen Mythos und Moderne hineingezogen.

S. Corinna Bille und C.F. Ramuz erzählen in ihren bemerkenswerten Büchern, wie gesellschaftliche und übernatürliche Mächte zusammenwirken. Für diese fremdartig anmutende Welt hoch droben in den Bergdörfern haben sie beide eine ebenso persönliche wie innovative Sprache gefunden. Ihretwegen gebührt ihnen und ihrem Werk ein Platz in der Schweizer Literaturgeschichte.

Verfasser: Beat Mazenauer, ch-intercultur

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