Leiterin im Glarner Turnverband: «Tragisch, sich rechtfertigen zu müssen, wenn man ein Kind zur Sicherheit hält»
Kerstin Herger ist im Glarner Turnverband die Ressortleiterin Geräteturnen. Obwohl die Disziplin im Kanton langsam wieder in Bewegung kommt, wird sie mit den Problemen der heutigen Zeit konfrontiert.
Kerstin Herger ist im Glarner Turnverband die Ressortleiterin Geräteturnen. Obwohl die Disziplin im Kanton langsam wieder in Bewegung kommt, wird sie mit den Problemen der heutigen Zeit konfrontiert.
von Köbi Hefti
Seit 2020 ist Kerstin Herger im Glarner Turnverband (GLTV) für das Ressort Geräte zuständig. Das Geräteturnen, kurz Getu genannt, ist ihr Fokus. «Ich versuche mein Bestmögliches, damit diese Sportart wieder populärer wird und zu Anerkennung kommt, obwohl es eine kleine Randsportart ist», sagt sie. Geräteturnen unterscheidet sich in der Schweiz vom Kunstturnen, anders als im Ausland, wo Geräteturnen und Kunstturnen dasselbe ist.
Getu umfasst bei den Turnerinnen die Geräte Boden, Reck, Schaukelringe und Sprung, bei den Turnern zusätzlich noch den Barren. Im Getu sind die korrekte Ausführung der Elemente und eine saubere Haltung stärker gewichtet als die Schwierigkeit. Die Wettkämpfe bestehen aus Einzelgeräteturnen, Mehrkampf und Einzelgeräteturnen Mannschaft mit Kantonalteams.
Das Können ist zurück
Als Kerstin Herger das Amt der Ressortleiterin Geräte übernahm, musste sie feststellen, dass die Technik nicht auf dem aktuellen Stand war. «Dies aufzuarbeiten, war nicht einfach, aber jetzt sind wir auf einem guten Weg und reden die gleiche Sprache», sagt Herger und fügt an: «Dass wir wieder alle am gleichen Strick ziehen, freut mich sehr. Einmal monatlich trainieren Haslen und Glarus sogar gemeinsam.»
Das Geräteturnen hat heute wieder einen guten Stand, wie die Resultate von Nando Garcia mit dem 7. Rang in der Kategorie 5 und Mario Dieffenbacher (11. Rang in der Kategorie Herren) an den Schweizer Meisterschaften Ende Oktober zeigen. Die Turnerinnen sind noch nicht ganz so weit wie ihre männlichen Kollegen. Dennoch steht das Getu heute ähnlich gut da wie nach der Gründung des GLTV 1995. Den damaligen Leiter This Rhyner freut dies sehr und er ergänzt: «Früher kamen viele aus der Kunstturnvereinigung Glarus zum Getu. Entsprechend gut wurde geturnt.» Nachwuchs aus dem Kunstturnen gibt es heute nicht mehr. Die Vereine müssen die Kinder von Grund auf ausbilden.
Im Sommer auf der Alp
Die Luzernerin Kerstin Herger ist mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und Können für das Geräteturnen im Kanton Glarus ein Glücksfall. Sie wuchs in Honau auf. Mit dem Fahrrad ging es zur Schule in ein Nachbardorf. Auf diesem Weg fuhr sie an der Turnhalle in Root vorbei und sah, wie die Kunstturnriege trainierte. Das gefiel ihr und sie sagte: «Ich will auch Kunstturnen betreiben.» Mit neun Jahren war es ein später Einstieg, doch seither ist sie mit Haut und Haar Turnerin. Später wechselte sie zum BTV Luzern, mit dem sie mehrere Meistertitel an den Schaukelringen und beim Sprung gewann.
Die Liebe war es, welche die Luzernerin im Alter von 25 Jahren hierhin zog. Sie erklärt: «Ich habe meinem Mann gesagt, ich gebe für dich alles auf, aber nicht das Turnen.» Mittlerweile lebt sie seit 2008 mit ihrem Mann Fredy und den drei schulpflichtigen Söhnen auf dem Urnerboden. Dort führt Familie Herger den Bauern- und Alpbetrieb Urnerboden-Vorfrutt-Clariden. 26 Kühe und einige Jungtiere haben sie. Weil ihr Stall im Winter nur für zwölf Tiere Platz hat, werden die anderen Kühe ins Appenzellerland verstellt. Der Urnerboden ist Hergers Welt und Leben, sogar den Urner Dialekt hat sie angenommen.
Unterschiede bei Mädchen und Knaben
Doch die überzeugte und zupackende Bäuerin ist noch immer mit viel Herzblut beim Turnen. Sie erklärt: «Ich möchte dranbleiben und das Beste aus den bescheidenen Mitteln machen.» Der Aufwand Hergers für ihre Herzenssache ist eindrücklich. Während der Saison, welche mit den nationalen Titelkämpfen im November endet, sind es weit mehr als zehn Stunden pro Woche, mit zwei Trainings in Haslen, Wettkämpfen, Kursen und administrativer Arbeit. Zur Frage, was dabei ihre grösste Freude sei, antwortet sie: «Dass man aus jedem Kind etwas herausholen kann, gefällt mir am besten. Wenn ich die Freude der Kinder am Turnen sehe und es mir als Trainerin gelingt, ihr Potenzial auszuschöpfen, ist das eine richtige Befriedigung.»
Doch es gibt auch die Schattenseiten, wie fehlendes Leiterpersonal, Trainingsausfälle, weil Hallen anderweitig genutzt werden, und Mangel an Trainingsstätten und Geld. Darunter leiden die beiden einzigen Glarner Getu-Riegen von Glarus und Haslen. Glarus mit Leiter Mario Dieffenbacher und Haslen mit den Leiterinnen Kerstin Herger und Melanie Kleiner-Marti sind mit je gut 30 Turnenden am Anschlag.
Lieblingsgeräte bei den Knaben sind Reck und Schaukelringe, wo sie fliegen können. Mädchen bevorzugen den Boden. Als grössten Knorz bezeichnet Herger die Kraft. Sie erklärt: «Diese fehlt, weil viele Kinder daheim nicht arbeiten können. Bei Bauernkindern ist das anders, sie haben die körperliche Kraft von Haus auf, weil sie auf dem Hof mithelfen.»
Knackpunkt Ethik
Ein ganz anderes Problem haben Trainerinnen und Trainer heute zu lösen. Die geltenden Ethikrichtlinien machen aus ihrer Leitertätigkeit eine Gratwanderung. Ob dies ein Grund ist, dass das Geräteturnen von Verbandsseite ein Randdasein hat, ist denkbar. Wer will schon angeklagt werden, nur weil sie oder er nach Lehrbuch Hilfe steht und dabei eine Turnerin oder einen Turner berührt. Kerstin Herger bringt die Problematik auf den Punkt: «Ich finde es tragisch, dass man sich heute rechtfertigen muss, wenn man im Training ein Kind zu dessen Sicherheit hält.»
Sie erinnert sich an ihre Zeit als Aktive und erklärt: «Mein Trainer hat mich beim Doppelsalto irgendwie abgefangen, wenn es nötig war. Das war für mich völlig okay, ich vertraute ihm und so kam ich weiter.» Heute ist alles heikel geworden, selbst Gespräche unter vier Augen sind ein Tabu. «Das Beachten aller Ethikrichtlinien macht alles streng, obwohl man nur helfen möchte», sagt Herger und ergänzt: «Ich muss mich rechtfertigen, selbst im Umfeld des Turnens. Deshalb frage ich mich schon: Was mache ich da genau?»
Man müsse äusserst achtsam sein, damit man sich nicht die Finger verbrenne, sagt sie und ergänzt: «Vor allem für Pädagogen ist das ein ganz heisser Tanz, denn diese riskieren allein schon durch Anschuldigungen ihren Job.» Doch diese Herausforderung nehmen die Verantwortlichen auf sich, denn die grosse Freude der Kinder, wenn sie ihre Ziele erreichen und Erfolgserlebnisse feiern, ist der Treiber und der Lohn für ihre Fronarbeit.
150 Jahre Glarner Turnverband
In diesem Jahr feiert der Glarner Turnverband (GLTV) sein 150-jähriges Bestehen. Dieses Jubiläum begleiten die «Glarner Nachrichten» mit diversen Beiträgen. Bereits erschienen sind: «Turnen ist eine Erfolgsgeschichte» (20. Februar), «Zuerst schrieb ich meiner Frau die Protokolle» (2. April), «Darum ist Turnen so gut für Kinder» (10. Mai), «Stüssis haben Turnen im Blut» (14. Juni), «Die einzige Glarner Sommer-Olympionikin brachte keine Medaille mit – dafür ein Foto mit Federer» (27. Juli), Jungschwinger Sales Tschudi aus Matt: «Ich habe lieber ein zweites Cordon bleu als ein Stück Torte» (23. August), «Wie die Niederurnerin Sarah Leuzinger den Spagat zwischen Gerichtssaal und Turnverein meistert» (7. September) und Die Leiterin der Glarner Gymnastinnen: «Das war ein Hühnerhautmoment», sagt Stephanie Blunschi (10. Oktober). (red)
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