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Für einmal nicht nur alle anderen

20.03.20 - 10:44 Uhr
Leben & Freizeit
Kommentar

«In der Schweiz passiert sowas nicht.» Ein Satz, mit dem wir aufgewachsen sind. Wann immer auf der Welt eine Krise ausbrach, hiess es: «In der Schweiz passiert sowas nicht. Es KANN hier gar nicht passieren, weil …» Und man fügte entweder das fortschrittliche Gesundheitswesen, das stabile Politsystem oder die starke Währung an. 9/11? Nein, Terror gibt es in der Schweiz nicht. Erdbeben in Haiti? Nein, bei uns kann so etwas nicht passieren. Bürgerkrieg? Aber sicher nicht in der Schweiz, unser Land ist politisch stabil. Stets lautete die Devise: Wir Schweizer hier, die anderen dort. Egal, wie nah eine Krise kam. Gelbwesten in Paris? Unvorstellbar in Zürich. Zunehmende rechte Gewalt in Deutschland? Sicher nicht hier, im linken Bern. Flüchtlingskrise? Klar, aber nicht im Binnenland Schweiz. All das passiert bei uns einfach nicht – kann bei uns nicht passieren, weil wir Schweizer alles so prima im Griff haben. Diese Mentalität hält an. Lockdown in der Schweiz? Unvorstellbar. Seinen Morgenkaffee nicht mehr im Altstadtcafé trinken? Soweit wird es nie kommen. Überlastetes Gesundheitssystem, zu wenig Betten für Intensivpatienten? Nicht in der Schweiz. Noch vor wenigen Tagen, als die ganze Welt nach Bergamo blickte, wo man Corona-Tote nicht einmal mehr zeitnah begraben konnte, sagte man hier: «Soweit KANN es in der Schweiz gar nicht kommen».

Und nun sitzen wir hier – bestenfalls im Home-Office. Um Lebensmittel einzukaufen, müssen wir Zettelchen ziehen. Wir blicken auf die Bildschirme, auf denen Daniel Koch zu uns spricht und uns immer und immer wieder sagt: «Bleiben Sie zuhause». Wieso tun wir das nicht alle? Weshalb muss der Bundesrat seine Verordnungen immer wieder verschärfen? Weil wir Schweizer verwöhnt sind. Weil wir die «Nicht-bei-uns»-Mentalität mit der Muttermilch aufgesogen haben. Weil wir Schweizer nicht krisenerprobt sind. Weil wir uns jahrelang für unverwundbar gehalten haben. Wir kommen nicht klar damit, dass uns jetzt gnadenlos vorgehalten wird, was eigentlich völlig logisch ist: Wir sind wie alle anderen. Dem Virus sind unsere Überzeugungen nämlich egal. Wenn man sich nicht die Hände wäscht, sich in grossen Gruppen am Rhein aufhält, wenn man in die Hände niest und dann den Nachbarn herzlich drückt, dann schlägt das Virus auch bei uns zu. Und dann ist auch unser Gesundheitssystem am Anschlag, dann sind auch unsere Behörden überfordert, dann bricht auch unsere Wirtschaft zusammen. Und plötzlich sind wir wie alle anderen. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Vielleicht lernen wir jetzt, das Glück nicht mehr für selbstverständlich zu erachten. Vielleicht ist es gut, wenn es für einmal nicht nur alle anderen sind.

Mara Schlumpf ist Redaktorin und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Ursprünglich kommt sie aus dem Aargau, hat ihr Herz aber vor einigen Jahren an Chur verschenkt. Mehr Infos

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Toller Kommentar. Es wird jetzt langsam Zeit, dass eine Ausgangssperre in unserem Land verhängt wird. Anscheinend ist unsere Bevölkerung schon soweit verblödet, dass sie den Ernst der Lage einfach nicht begreifen wollen.

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