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Wie viel Mythos braucht das Land?

Schweizer Geschichte erfreut sich wieder grosser Beliebtheit. Einige Bücher sind in letzter Zeit erschienen – Schweizer Geschichte ist wieder gefragt.

Südostschweiz
26.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Von Claudio Willi

Historiker werfen ein kritisches Licht auf das «urdemokratische Land», das im 19. Jahrhundert an vaterländischen Festen besungen und gefeiert wurde. Im Raureif der historischen Kritik hat inzwischen mancher Held Federn lassen müssen, ist manche Heldentat der Eidgenossen auf ein Minimum reduziert worden. Traditionelle Geschichtsbilder sind brüchig geworden.Die neue historische Kritik relativiert vor allem das Datum der Schweizer Staatsgründung von 1291, das wohl überhöht worden ist. Rütlischwur und Burgenbruch waren an dieses Datum geknüpft – früher galt das Gründungsjahr 1307, wie heute noch auf dem Tellendenkmal in Altdorf zu lesen ist. Rütlischwur und Apfelschuss sind nicht exakte Historie, was aber die Faszination des Mythos nicht mindert. Die Schweiz blieb ein lockeres Bündnissystem bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft, bis zur Helvetik und bis sich dann mit Napoleons Hilfe 1803 die Schweiz auf die Mediationsverfassung einigte.Der Mythos wurde immer wieder selber zur geschichtsbildenden Kraft. «Tell heissts und Winkelried, Fontanas Tod ...» wurde Leitmotiv für eine Gemeinschaft stiftende Identität, für ein nationales eidgenössisches Bewusstsein im 19. Jahrhundert. Die Auseinandersetzung mit der Historie bleibt eine vornehme Aufgabe. Fakt ist: Fakten allein genügen nicht, auch sinnstiftende Mythen braucht das Land. Historiker haben den Unterschied zwischen Geschichte und Legende auszuarbeiten. Eine Entrümpelung bis hin zum Ergebnis der Landesausstellung von Sevilla «La Suisse n'existe pas» kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.

Claudio Willi ist Redaktor beim «Bündner Tagblatt».

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