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«Was mich interessiert am Kino, ist nicht die Realität»

Die französisch-schweizerische Filmemacherin Ursula Meier ist eine Hoffnung des Schweizer Kinos. Im Interview spricht die 43-Jährige über inneren Frieden, aggressive Motoren- geräusche und ihren fremden Blick auf die Schweiz.

Südostschweiz
11.09.14 - 02:00 Uhr

Mit Ursula Meier sprach Jonas Schmid

Frau Meier, nach dem Grosserfolg Ihres Films «Sister» 2012 ist es ruhiger um Sie geworden. Woran arbeiten Sie derzeit?

Ursula Meier: Einerseits habe ich soeben den Kurzfilm «Silence Mujo» abgeschlossen, der Teil des Omnibusfilms «Die Brücken von Sarajewo» ist. Dieses Gemeinschaftswerk besteht aus 13 Kurzfilmen von europäischen Regisseuren und wurde dieses Jahr am Festival in Cannes uraufgeführt. Andererseits drehe ich einen Beitrag für das Kinderkino «Lanterne magique» mit dem Schauspieler Kacey Mottet Klein. Beides sind kürzere Filme, ihre Produktion benötigt gleichwohl viel Zeit. Zudem stehe ich bei einer französisch-schweizerischen Koproduktion und einem etwas verrückteren angelsächsischen Projekt in der Anfangsphase und schreibe mit meinem Koautor Antoine Jaccoud das Drehbuch.

«Filmideen gibt es wie Sand am Meer»

Woher holen Sie sich die Ideen für ein neues Drehbuch?

Filmideen gibt es wie Sand am Meer. Die zentrale Frage ist, welcher Film macht zum jetzigen Zeitpunkt Sinn für mich. Um darauf eine Antwort zu finden, brauche ich ein starkes inneres Verlangen nach einer Geschichte. Ich begreife das jeweils selber nicht sofort. Oft gehe ich von einem besonderen Ort aus, da ich sehr stark auf die Topografie reagiere. Bei «Home» war für mich eine Autobahn ausschlaggebend, bei «Sister» die Vertikalität. Manchmal ist es auch ein Schauspieler, der mich inspiriert eine bestimmte Story zu erzählen. So entsteht langsam ein organischer Prozess und der Film beginnt zu reifen. Ich habe eine ungefähre Idee, Charaktere, das Dekor und eine Handlung.

Was machen Sie am liebsten bei der Filmproduktion? Ton, Bild, Drehbuch oder die Zusammenarbeit mit den Schauspielern?

Ursprünglich bin ich vom Bild her gekommen, von den Charakteren und weniger von der Literatur. Anfangs fiel mir das Drehbuch-Schreiben schwer. Es hat etwas Beängstigendes, wenn man von einem leeren Blatt ausgeht. Mittlerweile habe ich auch daran Freude. Damit der Film für den Zuschauer zu einem emotionalen Erlebnis wird, müssen alle Sinne angesprochen werden. Es geht um Details, so ist auch der Ton-Mix entscheidend. Bei «Home» etwa wollten wir erreichen, dass sich die Zuschauer vom Autolärm so gestört fühlen, wie wenn sie selbst an der Autobahn leben würden. Er sollte ihnen auf die Nerven gehen, doch nicht in dem Ausmass, dass sie aus dem Saal laufen würden. Beim ersten Versuch meinte ein Produzent, der uns in dieser Frage beriet, dass der Ton für das Publikum unerträglich sei. Darauf haben wir die Lautstärke um nur ein Dezibel gesenkt und die Dichte der vorbei fahrenden Fahrzeuge in einigen Szenen etwas reduziert. Das Resultat war perfekt: Die Motorengeräusche dröhnten aggressiv, konnten dem Publikum jedoch zugemutet werden.

Ihr erster längerer Spielfilm «Home» ist eine Art moderne Fabel. Bei «Sister» hingegen orientieren Sie sich stärker an der Realität ...

Was mich interessiert am Kino, ist nicht die Realität, sondern dass ich von etwas Imaginärem ausgehen kann, das anfangs nur in meinem Kopf existiert. Danach sind es die Schauspieler, die eine Figur mit ihren Körpern bewohnen und in die Realität übertragen. Diese Konfrontation des Imaginären mit dem Realen kreiert sehr starke Bilder.

In «Home» beschreiben Sie eine Familie, die in der Natur-Idylle lebt, bis sie von der Entwicklung eingeholt wird und daran zerbricht. Schätzen Sie den technischen Fortschritt pessimistisch ein?

Nein, der Film ist für mich eher eine Metapher für Isolierung und Liebe. Die Autobahn repräsentiert die heutige Welt in ihrer Gewalttätigkeit und Aggressivität. Die Welt wird immer abstrakter. Ich habe nichts gegen den Fortschritt, der findet ja einfach statt. Die Welt verändert sich und wir müssen Mittel und Wege finden, um damit klarzukommen.

«Ich habe das Glück, Künstlerin zu sein»

Sie suchen also nicht die Idylle jenseits der Gesellschaft wie die Familie in «Home»?

Ich habe das Glück, Künstlerin zu sein, was meine Art ist, die Idylle zu bewahren. Die Kreativität ist ein Kokon, in den ich mich zurückziehen kann, wenn mich etwas belastet. Diesen inneren Frieden finde ich nur in der Kreativität und nirgendwo ausserhalb.

«Sister» ist ein Anti-Heidi-Film. Rütteln Sie mit Ihren Filmen bewusst an Klischees?

Ich gehe nicht von Klischees aus, doch wollte ich die Berge in «Sister» schon aus einer anderen Perspektive zeigen. Ich fand es interessant an einem Ort zu sein – vielleicht am schönsten Ort der Welt – und dort die Toiletten, Keller und Abstellkammern zu filmen. Für diesen anderen Blick auf die Berge hat mich Fredi Murers «Höhenfeuer» besonders inspiriert. Murer hat mir mal erzählt, wie er genau darauf achtete, die Berggipfel nicht im Bild zu haben, um auch unter freiem Himmel ein Gefühl des Schwindels und der Höhenangst zu vermitteln. «Sister» hat etwas von Murers «Höhenfeuer», spielt aber in unserer Zeit.

«Die Welt ist vielschichtiger geworden»

Ist Filmemachen für Sie auch ein politisches Engagement?

Der bekannte Regisseur Alain Tanner hat einmal festgestellt, dass wir, die junge Generation, kein politisches Kino mehr machen würden. Doch die Welt ist vielschichtiger geworden. «Sister» ist in gewisser Hinsicht ein politischer Film, allerdings ohne Forderungen zu stellen. Es ist ein Film über den Menschen, der zeigt, wie komplex die Welt geworden ist und wie weit wir heute bereit sind zu gehen. Als Regisseurin möchte ich mit meinen Filmen die Komplexität der Welt begreifbar machen und zeigen, wie jeder damit umgeht, mit sich selbst und den anderen.

Sie gehören zu den treibenden Kräften einer neuen Generation von Filmemacherinnen. Ist die Schweizer Filmindustrie noch immer zu männlich?

Nein, ich denke nicht. Das sieht man etwa daran, dass in jüngster Zeit viele Schweizer Filmpreise an Frauen gingen. Frauen sind erst relativ spät ins Filmgeschäft eingestiegen, infolgedessen blieb die männliche Perspektive lange dominant, auch in Bezug darauf, wie Frauen dargestellt wurden. Das beginnt sich jetzt auszubalancieren. In anderen Kulturen ist es für Frauen hingegen verboten, eine Kamera zu bedienen. Das macht mich wütend.

Sie sind Jury-Mitglied der Internationalen Filmfestspiele von Venedig. Wann ist ein Film ausgezeichnet?

Ein exzellenter Film fesselt mich innert Sekunden, und ich verliere jede Distanz. Sobald ich beginne, einen Film nach Kriterien zu beurteilen, ist er für mich gescheitert. Das ist nicht immer erklärbar, da Filme nicht über den Verstand, sondern über Emotionen funktionieren. Ein gelungener Film ist Alchemie. Es kommt jedoch vor, dass mich ein Film aufwühlt und später denke ich: «Das war alles nur ein grosser Bluff!» Ich brauche etwas Zeit, um das Gesehene zu verdauen.

Hat der Ausschluss der Schweiz vom europäischen Filmförderungsprogramm Media direkte Konsequenzen für Sie?

Ja, das ist für uns Regisseure eine Katastrophe. Ich hoffe sehr, dass man nun für 2015 eine Lösung findet. Bis dahin ist die Lage für Schweizer Filme kompliziert. Europäische Filmverleiher konnten dank dem Media-Programm hiesige Filme besser vermarkten, denn sie erhielten einen finanziellen Anreiz. «Sister» zum Beispiel wurde dank dem Programm in allen europäischen Ländern gezeigt. Ohne Media erhalten die Verleiher diese Hilfe nicht. Schweizer Filme werden so gegenüber der europäischen Konkurrenz benachteiligt. Infolgedessen werden Schweizer Filme nur noch in der Schweiz gezeigt, womit sich das Land noch mehr abkapselt.

«Das ist eine Katastrophe für uns Regisseure»

Ist das Schweizer Kino nicht zu klein, um international erfolgreich zu sein?

Nein, die Schweiz ist nicht zu klein, um herausragende Filme zu produzieren. Oft kommen gerade die interessantesten Ansätze aus kleinen Ländern. Natürlich dürfen wir uns nicht mit Hollywood vergleichen. Wir haben niemals diese Mittel, und es bringt nichts, davon zu träumen. Unsere Chance ist es, unsere Eigenart zu erkennen und mit ihr kreativ umzugehen. Ich finde, wir müssen dabei auch ein bisschen verrückt sein, bereit sein in unbekanntes Territorium vorzustossen und etwas zu riskieren.

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