Sandro Rizzi – der Teamplayer und Captain sagt «Adieu»
Vom «Schnupperer» aus der 1. Liga bis zum Rücktritt als meistrespektierter Spieler des Klubs 17 Jahre später. Sandro Rizzi hat beim HC Davos grosse Karriere gemacht. Die «Südostschweiz» machte mit dem Mittelstürmer eine Reise zurück dorthin, wo alles begann.
Vom «Schnupperer» aus der 1. Liga bis zum Rücktritt als meistrespektierter Spieler des Klubs 17 Jahre später. Sandro Rizzi hat beim HC Davos grosse Karriere gemacht. Die «Südostschweiz» machte mit dem Mittelstürmer eine Reise zurück dorthin, wo alles begann.
Von Kristian Kapp
Eishockey. – Wir treffen uns um 11 Uhr in der HCD-Garderobe, wie schon zigfach zuvor. Business as usual. Und doch ist diesmal alles anders. Es wird das letzte Interview mit Sandro Rizzi, dem Eishockeyspieler. Oder genauer gesagt Rizzi, dem Mittelstürmer, der die nun nach und nach abgelöste, extrem erfolgreiche HCD-Generation prägte wie nur wenige andere: Fünf Meistertitel machen Rizzi zum erfolgreichsten Bündner Eishockeyaner der Neuzeit. Am 22. März, nach dem letzten Saisonspiel, trat Rizzi nach knapp 18 Jahren NLA-Hockey zurück.
Mit einem Lächeln, aber müdem Blick erwidert Rizzi den Gruss. Er ist entschuldigt. Es ist Donnerstag, der 27. März. Am Abend zuvor fand der traditionelle Saisonabschluss statt, wo jeweils nur Spieler, Trainer und der nahe stehende Staff dabei sind. «Es wurde spät», erklärt Rizzi das Offensichtliche. Das Aus im Play-off-Viertelfinal gegen Kloten ist mittlerweile fünf Tage her und damit einigermassen verarbeitet und abgehakt. Während die Teamkollegen Rizzis den Blick bereits Richtung nächster Saison richten, ist für den 35-jährigen Captain Schluss. Die Karriere ist dennoch nicht abgehakt. «Noch habe ich kein komisches Gefühl. Es ist einfach wie immer nach dem Ausscheiden», sagt Rizzi.
Wir steigen ins Auto. Die Fahrt führt nach Klosters und dem Fahrzeugverlad, dann mit dem Zug durch den Vereinatunnel ins Unterengadin. Wir sind unterwegs nach St. Moritz, wo Rizzi die Kindheit verbrachte. Der Engadiner ist längst ein Davoser, auch Rizzi stellt beim Verladen überrascht fest, wie selten er bislang diesen Dienst genutzt habe. Auf der Fahrt durch den Tunnel kreisen die Gedanken wieder um das Out und die an diesem Tag beginnenden Halbfinals. «Das Ausscheiden war so unnötig», sagt Rizzi. «Kloten kam mir nicht übermächtig vor. Wir waren einfach schlechter.»
Und irgendwie war es halt auch nicht mehr der «alte» HCD. «Während den Play-offs las ich bei euch diese Statistik, dass wir die ganze Saison nie einen Match gewinnen konnten, wenn wir nach zwei Dritteln zurück lagen. Das gab mir zu denken», sagt Rizzi. Seine Mannschaft habe lange den Ruf des «Angstgegners» in den Play-offs gehabt. «Egal, auf welchem Rang wir waren: Auf den HCD wollte niemand treffen. Das ist wohl nicht mehr so.» Auch der Ruf des «schlechten Verlierers» in den Play-offs hat Davos verloren, die Bilder der überfüllten HCD-Strafbank in den letzten Minuten bei feststehenden Siegen des Gegners sind passé: «Unser Spiel bestand aus Emotionen, wir haben Niederlagen nicht einfach über uns ergehen lassen – so wie dieses Mal.»
Erinnerungen an die offene Ludains
Das Tageslicht hat uns wieder. Nach der Weiterfahrt, vorbei an Zernez, Zuoz und Samedan, treffen wir in St. Moritz ein. Hier, in der Eisarena Ludains, begann für Rizzi alles, er zeigt auf das nur einen Steinwurf entfernte Hochhaus, in dem er aufwuchs. Damals sprach man noch von der offenen Ludains, die sich aber markant verändert hat. «Das sind gute Erinnerungen», sagt Rizzi und erzählt vom NLB-Aufstiegsspiel gegen Ajoie, das er als Knirps live mitverfolgte. Der EHC St. Moritz in der NLB? «Heute unvorstellbar», sagt auch Rizzi. Galt das vielleicht auch damals? «St. Moritz führte nach zwei Dritteln 5:2, verlor am Ende aber 5:8», erzählt er mit einem Augenzwinkern.
Rizzi selbst hat im Stammklub auch manch denkwürdige Schlacht auf der Ludains geschlagen. Berüchtigt waren Kälte und Schnee sowie für den Gegner unendlich erscheinende Anreisen. «Unsere Trainer pflegten den Gegner zu schocken, indem sie ihnen nach der Ankunft mitteilten, dass das Wetter wahrscheinlich kein Spiel zulassen würde», erzählt Rizzi schmunzelnd. Natürlich wurde dann gespielt, praktisch immer: «Bis zu minus 25 Grad konnte es werden, vor allem zum Trainieren war das schon krass.» Auch der Schnee durfte nicht immer als Grund für eine Absage herhalten. Rizzi erinnert sich an ein Spiel mit dem Nachwuchs, «als es so fest schneite, dass wir nicht mehr nachkamen mit dem Wegwischen. Also schoben wir den Schnee an die Banden. Wenn der Puck dann in den weissen Haufen verschwand, warf der Ref halt einen neuen ein …»
Es war die Zeit, als der EHC St. Moritz regelmässig NLA-Spieler produzierte. Die Triulzis oder Claudio Micheli, dann Gian-Marco Crameri, Marc Gianola, schliesslich Patrick Fischer, die Camichels oder eben Rizzi. Für die talentiertesten Engadiner Junioren war es üblich, die Stufen im Eilzugtempo durchzulaufen. «Ich war erst vierzehneinhalb, als es erstmals hiess, ich könne im 1.-Liga-Team aushelfen», erinnert sich Rizzi. Der nächste grosse Schritt erfolgte knapp drei Jahre später. Davos beklagte Anfang 1997 in Arno Del Curtos erster Saison ein paar Verletzte, Rizzi wurde von seinem Engadiner «Landsmann» zum Schnuppern eingeladen und durfte in sechs Spielen mittun. Die nächste Saison war er Stammspieler in Davos.
Die «wilden» Jahre zu Beginn
Die Bilder im Engadin sind gemacht, wir brechen auf, zurück nach Davos, dieses Mal über den Julierpass. «Diese Route kenne ich natürlich besser», sagt Rizzi. Am Anfang pendelte er regelmässig zwischen Davos und St. Moritz, in erster Linie der Familie wegen. Heute ist das nicht mehr nötig. Die Schwester und später auch die Eltern sind ihm «nachgezogen» und leben in Davos. «Und auch die Kollegen von damals haben St. Moritz mittlerweile verlassen», sagt Rizzi. Diese «alten Zeiten», die jungen Jahre in Davos, waren Rizzis «wilde». Er war natürlich nicht alleine, die Mannschaft bestand vor allem aus «alten Teenagern» und «jungen Twens». «Wir waren einige, die neben dem Eis nicht einfach zu führen waren – Kalbereien, Ausgang, ab und zu ein Gläschen zu viel …», erzählt Rizzi mit einem Lachen. 1999, als Trainer Del Curtos Vater während zweier Monate im Sterben lag, wäre fast alles eskaliert. «Normalerweise schickte uns Arno in jener Zeit in der Nacht aus den Bars heim. Doch plötzlich fielen die Kontrollen wegen seines Vaters aus – und wir nutzten das natürlich aus.» Ein für Rizzi in 18 Jahren beispielloser sportlicher Tiefflug bis zuunterst ans Tabellenende und beinahe die Entlassung Del Curtos waren die Folgen. Der HCD schaffte die Play-offs am Ende dennoch, und Rizzi und die jungen Wilden waren eine Erfahrung reicher: «Wenn du fast drei Monate so lebst, endet das nicht gut …»
Es gibt aber auch andere Erinnerungen an diese Zeit. Wohl jeder Sportler wird in seiner Karriere den «Was-wäre-wenn …»-Moment finden. «Es ist interessant, wie im Eishockey Spieler in ihre Rollen hineinwachsen, wie diese Entwicklungen auf verschiedene Art und Weise beeinflusst werden», sinniert Rizzi. Er denkt an den jungen Enzo Corvi, auch er Mittlestürmer, der beim HCD innert zweier Jahre den Sprung aus der 2. Liga ins NLA-Team schaffte. «Ich war in Davos mit wenigen Ausnahmen immer in der dritten oder vierten Linie. Ich habe mich gefragt, was möglich gewesen wäre, wenn ich ganz am Anfang wie Corvi auch mit den Ausländern oder Skorern hätte spielen können.» Rizzis Rolle in Davos wurde aber eine andere – das Gegenteil: Wie kaum ein anderer Schweizer Eishockeyaner seiner Generation verkörperte Rizzi den defensiven Teamplayer. Er glänzte jahrelang nicht mit geschossenen, sondern mit verhinderten Toren – diese sind nirgends notiert. «Eines unserer Markenzeichen in den erfolgreichen Jahren war, dass wir Führungen in der Schlussphase kaum preisgaben. Gerade als Center hattest du da eine fixe Rolle», sagt Rizzi nicht ohne Stolz.
Schüsse blocken, als Center oftmals wie ein Libero hinten absichern, stets «Defense first» im Gedanken zu haben, im Unterzahlspiel aufblühen – Rizzis grosse Stärken waren nicht jene, die von Fans und Medien in jenem Ausmass wahrgenommen werden wie die Tore der Topskorer. Und dennoch ist Rizzis «Was-wäre-wenn…»-Frage nicht unberechtigt. Einerseits war er als Junior ein Skorer und bewies auch in der U20-Nationalmannschaft offensive Fähigkeiten. «Und dann gab es da diese eine Saison …», sagt Rizzi. Er meint die Spielzeit 2008/09, als er mit Andres Ambühl und Peter Guggisberg für einmal zwei offensiv potente Flügelstürmer an seiner Seite wusste und ihm prompt die statistisch beste Karrieresaison gelang. Reue kommt dennoch keine auf, schnell verwirft Rizzi diese Gedanken: «Der Erfolg stimmte schliesslich. Auch, weil Arno ein Trainer ist, dem die einzelnen Statistiken der Spieler egal sind.»
Die Ehrlichkeit des Trainers
Arno Del Curto. Er holte Rizzi nach Davos und wurde steter Wegbegleiter. Nur Jan von Arx hat noch länger unter dem Erfolgstrainer gespielt. Fast 18 Jahre unter demselben Coach? Das ging, «weil Arno stets ehrlich ist», sagt Rizzi. Ehrlichkeit kann auch schmerzen. Dies erfuhr Rizzi zuletzt, als er vom Trainer mitgeteilt bekam, dass er für die nächste Saison keinen Vertrag mehr bekommen würde. Dies kam faktisch dem Rücktritt gleich. «Ich bin sicher, dass ich irgendwo noch für ein Jahr untergekommen wäre», sagt Rizzi. «Aber es wäre offensichtlich gewesen, dass ich das nur des Geldes wegen getan hätte. Das war für mich nie der Grund, um Eishockey zu spielen.» Diese Absichten verschwieg Rizzi bis zum Schluss. «Wir haben in den Play-offs im Interview ja darüber geredet. Ich bin extra ausgewichen, da ich meinen Rücktritt nicht in den Mittelpunkt stellen wollte.» Die letzte Saison wurde zur mentalen Herausforderung. Sie begann damit, dass Del Curto aus Rizzi einen Verteidiger machte. Später, als er wegen den vielen verletzten Stürmern wieder vorne spielen durfte, sank die Eiszeit. «Natürlich macht es Sinn, einen älteren Stürmer weniger einzusetzen – doch solche Sachen akzeptiert dein Kopf nur schwer. Der erste Gedanke zu Saisonbeginn war ‘Toll, jetzt reicht es mir nicht einmal mehr zum Center’.»
Wir sind mittlerweile oben auf dem Julierpass angekommen, das geplante Bild bei der «2284 m ü. M.»-Tafel, auf dem «Höhepunkt» der Reise, fällt ins Wasser. Oder besser gesagt in den Schnee: Das Ding ist wie alles andere dort oben komplett zugeschneit. Also weiter Richtung Davos. Ist bei den Blicken zurück auf die Karriere mittlerweile etwas Wehmut aufgekommen? «Nein», sagt Rizzi. «Ich habe nach wie vor nicht das Gefühl, mit dem Rücktritt einen schlechten Entscheid getroffen zu haben.» Er weiss aber: Dieses «komische» Gefühl wird kommen. «Wahrscheinlich, wenn ich Anfang nächster Saison dann ins Stadion komme und an der Garderobe vorbei- statt hineinlaufe.» Diese Aussage erstaunt nicht. Wer zurückgetretene Eishockeyspieler kennt, weiss: Diese Garderobe, dieser heilige Ort, zu dem keine anderen Leute Zutritt haben – genau das ist es: «Das werde ich vermissen», sagt Rizzi. «Nicht die 10 000 oder 5000 Zuschauer, wenn ich spiele. Sondern das Leben in der Garderobe.» 20 oder 30 Leute, die alle wirklich gemeinsam mit voller Hingabe auf das eine grosse Ziel hinarbeiten: «Ob ich das je wieder erleben kann?», fragt Rizzi und lässt die Antwort offen.
«Früher gabs für alles einen ‘Pfeil’»
Rizzi dürfte dem HCD verbunden bleiben. Zumindest bietet ihm sich die Chance, beim Rekordmeister in irgendeiner Form einzusteigen. Er wird zunächst an verschiedenen Fronten «schnuppern» können, wie damals, 1997 – einfach nicht mehr auf dem Eis. Und damit nimmt auch ein anderes Kapitel ein Ende – eines, das Rizzi nicht vermissen wird: «Verletzungen und die Schmerzen. In den letzten drei oder vier Jahren wurde es zur Gewohnheit, dass am Morgen beim Aufstehen Rücken und Schulter weh tun. Ich hoffe, dass sich das nun ändert.» Die Gewissheit dafür hat Rizzi nicht, es ist der Preis für seine Spielweise – und für den Umgang mit Blessuren. «Heute ist man vernünftiger», glaubt Rizzi. «Früher, gerade in den Play-offs, hast du dir bei praktisch allem einfach einen ‘Pfeil’ reingejagt und gespielt.» «Pfeile», das sind die schmerzstillenden Spritzen, die auch Rizzis Körper über die Jahre «durchlöcherten». Die Angst vor Spätfolgen, gerade wegen Hirnerschütterungen, haben den Entscheid zum Rücktritt beeinflusst. Rizzi kennt zwei abschreckende Beispiele: «Sandy Jeannin oder Erik Westrum.»
Wir treffen wieder in Davos ein. Vor der Fahrt zurück zur Garderobe gibts noch ein Geschenk für Rizzi: Eine HCD-Torte mit seiner «69» aus Marzipan und 18 Kerzen – für jede HCD-Saison eine. «Womit habe ich das verdient?», scherzt Rizzi. Nicht nur der Rücktritt ist bei ihm noch nicht ganz «angekommen». Auch die Bedeutung in der Klubhistorie mit fünf Titeln und dem Captainamt werden wohl erst später bewusst werden. Man liest in den Büchern von der «Torriani»-Generation. Die «Rizzi-von-Arx-Generation» wird einst im gleichen Atemzug erwähnt werden. Was das bedeutet? Rizzi bleibt bescheiden: «Es zeigt, dass wir in diesen Jahren nicht alles falsch gemacht haben.»
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