Palmen, Hochhäuser und Wölfe
Graubünden wird sich in den kommenden Jahrzehnten stark verändern. 215 000 Menschen leben vorwiegend in Zentren, es wird überall wärmer, und die nationale Rolle des Kantons wandelt sich. Ein Ausblick.
Graubünden wird sich in den kommenden Jahrzehnten stark verändern. 215 000 Menschen leben vorwiegend in Zentren, es wird überall wärmer, und die nationale Rolle des Kantons wandelt sich. Ein Ausblick.
Verschiedene Studien blicken auf den Kanton Graubünden Mitte des Jahrhunderts voraus
Von olivier berger
Der 9. Oktober 2044 ist ein schöner Sonntag. In Chur ist es mit rund 25 Grad vergleichsweise kühl für die Jahreszeit. Die Bevölkerung schätzt den frischen Herbsttag nach einem viermonatigen Sommer mit Temperaturen um die 35 Grad ganz besonders. Viele nutzen den Sonntagvormittag, um ins total renovierte Freibad Sand zu gehen; seit die Wasserknappheit behoben ist, haben die Schwimmbäder wieder geöffnet. Andere zieht es an die Ufer des Rheins, der breit und träge wie nie durch den Talboden fliesst.
In Disentis treffen die ersten Tagesausflügler ein, die in Shorts und T-Shirt zu einer Wanderung aufbrechen. Sie führt die Hänge hinauf, wo bis zehn Jahre davor noch Skilift- und Bergbahn-Anlagen standen; heute sorgen naturnah bewirtschaftete Bergrestaurants mit WLAN-Anschluss dafür, dass sich die Gäste wohlfühlen. Viele der Wanderer stammen aus der Bandstadt, die sich der A13 entlang durchs ganze Rheintal zieht. Über 100 000 Menschen leben in dem Ballungsgebiet – knapp die Hälfte der Bündnerinnen und Bündner.
Über der menschenleeren Val Müstair zieht derweil ein Bartgeier seine Kreise. Er sucht nach Aas oder Knochen, die ein Bär oder ein Wolfsrudel auf ihren Streifzügen durch die Talschaft übrig gelassen haben. Die noch knapp 1000 Einwohnerinnen und Einwohner haben sich mit den neuen Gegebenheiten bestens arrangiert. Sie erbringen Dienstleistungen, die dank moderner Technologien und der Versorgung aller Regionen mit Hightechzugang an keinen bestimmten Ort gebunden sind. Eine weitere wichtige Einnahmequelle ist der naturnahe Tourismus in der einzigartigen Biosphäre, welche Besucherinnen und Besucher aus aller Welt anlockt.
<strong>Absurde Utopien?</strong> Nicht, wenn man den verschiedenen Studien glaubt, die in jüngerer Vergangenheit über das Graubünden der Zukunft erschienen sind (Ausgaben vom 28. September und vom Freitag). Demnach leben im Jahr 2040 in Graubünden über 215 000 Personen; die meisten von ihnen wird es in den kommenden Jahrzehnten ins Bündner Rheintal oder in die regionalen Zentren ziehen. Dies auf Kosten der kleineren Ortschaften und Talschaften.
Auch altersmässig befindet sich die Bündner Bevölkerung im Wandel. Zwar gibt es im Jahr 2040 leicht mehr 35- bis 40-Jährige als heute; zulegen wird aber vor allem die Zahl der Seniorinnen und Senioren, wie ein Blick in das sogenannte Bevölkerungsszenario belegt. Das gilt in noch stärkerem Mass als für die Schweizer Bevölkerung für die Ausländerinnen und Ausländer, die hier leben. Die Migration wird zudem weiter zunehmen. Ins Auge sticht dabei, dass der Anteil der Frauen, die es aus dem Ausland nach Graubünden zieht, stärker wächst als jene der Männer. Nach einem Rückgang bis ins Jahr 2025 wird die Zahl der Einbürgerungen ansteigen und bis 2040 wieder das heutige Niveau erreicht haben.
<strong>Nicht nur die Menschen</strong> in Graubünden verändern sich bis ins Jahr 2040, auch das Klima wird sich weiter erwärmen. Heisse, trockene Sommer könnten dazu führen, dass sich das gesamte System der Bündner Fliessgewässer nachhaltig ändert. Die Schneefallgrenze wird weiter ansteigen; weil es im Norden ausserdem viel weniger Winterniederschläge gibt als heute, dürften Skigebiete vor allem noch in sehr hohen Lagen auf der Alpensüdseite funktionieren. Auch auf die Energieversorgung haben die veränderten klimatischen Bedingungen einen grossen Einfluss.
Wandeln wird sich auch die Rolle Graubündens in der Schweiz. Die Aussagen des ETH Studio Basel von vor zehn Jahren sind bereits heute überholt: Nicht zuletzt dank politischem Einsatz droht Graubünden nicht mehr das Vegetieren als «alpine Brache» oder als reiner Freizeit- und Erholungsraum. Das hat auch die Regierungskonferenz der Gebirgskantone festgehalten, die ihre Vorstellungen über die Entwicklung des Alpenraums diese Woche vorgestellt hat. Trotzdem steht Graubünden wegen des Strukturwandels auch raumplanerisch vor grossen Aufgaben – viele Arbeiten sind bereits im Gang.
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Bereits Abonnent? Dann schnell einloggen.