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O du weisse Arche am Rand des Gebirges! (1133 m ü.M.)

Morgen vor 20 Jahren verstarb der Historiker und Journalist Niklaus Meienberg. Aus diesem Anlass druckt das «Bündner Tagblatt» Auszüge eines Textes ab, in dem er sich an seine Zeit an der Klosterschule Disentis erinnert.

Südostschweiz
21.09.13 - 02:00 Uhr

Niklaus Meienberg

Die Ankunft möglichst lange hinauszögern. Die Rückkehr nicht so brüsk erleben. Samstags um fünf Uhr, so war vereinbart worden, werde man sich zuerst in der Krone treffen, zum Aperitif, hatte Augustin, der die Einladungen verschickte, uns wissen lassen, und man werde später gemeinschaftlich soupieren im Hotel Soundso und sonntags früh sich zur Klassenfoto versammeln und dann zur Messe gehen, mit Predigt unseres ehemaligen Klassenkameraden Giovanni, anschliessend die Ausgrabungen (innerer Klosterhof, 8. Jahrhundert) in Augenschein nehmen und sodann von den Mönchen, unsern ehemaligen Lehrern, zu Tisch gebeten werden im Gastsaal des Konvents, wonach dann schliesslich zum Ausklang das gemütliche Beisammensein in einem Restaurant erfolge.

Ausgrabungen.

Beisammensein. Es sollte gedacht werden, anlässlich des fünfundzwanzigsten Jahrestages der Matura (Typus A): unseres langjährigen Beisammenseins in der Klosterschule von D.

Gemütlich?

Gemütlich jedenfalls von Domat/ Ems die alte rechtsrheinische Strasse hinaufgefahren, über Versam/Valendas. Also nicht die Schnellstrasse über Flims, sondern die Mäanderstrasse, welche sich windet und schlängelt wie tief drunten der Rhein in seinem Canyon und durch alte, fast unzerstörte Dörfchen führt, durch das alte Graubünden nach Ilanz. Nicht liebt er es in Wickelbanden zu weinen, hatten wir in der Klosterschule gelernt, und das war auf den jungen Rhein gemünzt, den Brodelnden, Ungestümen. Ein Rätsel ist reinentsprungenes. Er war immer kalt gewesen, fast wie Gletschermilch, und schwimmen konnten wir darin nicht. Ein Schwimmbad gab es auch weit und breit keines, mit dem Wasser wurde sparsam umgegangen, 1955, in meinem ersten Internatsjahr. Damals konnten wir jede dritte Woche einmal in den Einzelkabinen im Keller des Zellentrakts duschen, aber natürlich immer mit Badehose, obwohl die Gummivorhänge streng geschlossen waren und Pater Godehard, der Präfekt, wie man die Aufsichtsperson nannte, zwischen den Kabinen, das Brevier in der Hand, patrouillierte, während aus allen Kabinen der Dampf quoll. Pater Godehard war zugleich unser Deutschlehrer, und in dieser Eigenschaft liebte er meine Aufsätze, während er mich in seiner Eigenschaft als Präfekt nicht riechen konnte, denn ich hatte Schwierigkeiten mit der Disziplin. Godehard hat uns viel Hesse vermittelt.

Versam, Valendas, Ilanz. Der Uhren- und Bijouterieladen der Familie V. ist noch an der alten Stelle, das beruhigt. In diesem Haus – sehr hablich! – ist doch Hanspeter aufgewachsen, der etwas Überlegenes, Gediegenes hatte, Sohn aus gutem Hause, angelsächsisch cool, und uns nervte mit der Pommes-frites-Pfanne seiner Mutter (sogenannte Friteuse). Pommes frites waren damals eine Delikatesse, von der man in D. nur träumen konnte, […].

Ob Hanspeter wohl auch kommt heute abend?

*

Ilanz, Tavanasa, Truns. Die Landschaft noch unverstellt auf dieser Strecke, wenig Überbauungen, aber die Strasse ist breiter und jetzt überall geteert. Daneben die Rhätische Bahn, die uns nach den Ferien jeweils hinauftransportiert hat. Das Würgen im Hals, wenn man an die Rhätische Bahn denkt und an das Ferienende. Die geflochtenen Koffer mit den Lederriemen.[…]

Also jeden Moment wird man jetzt, an diesem Samstagabend im Herbst 1985, kurz nach fünf Uhr, das Kloster auftauchen sehen hinter dem letzten Rank vor dem Dorf, wie man es früher jeden Tag nach dem Spaziergang auftauchen sah, rechts noch die Plazikirche, lawinengeschädigt, links stand früher ein altes, bröckelndes Hotel inmitten von Lärchen, das ist verschwunden, was haben wir jetzt da, eine Art von überdimensionierten Alphütten erhebt sich, bombastisch-volkstümelnde Architektur, die Gegend wurde dem Tourismus ausgeliefert, früher gab es im Dorf nur wenige bescheidene Hotels, jetzt stehen Kästen in der Gegend, Talsperren, die am obern und untern Rand von D. die Landschaft zerschneiden, die Zürcher haben anscheinend die Schönheiten der Surselva, wie man diesen Teil des Oberlandes auf romanisch nennt, entdeckt, und die langgestreckte strenge Klosterfassade, welche so unerbittlich wirkt, fast wie der spanische Königspalast des Escorial, wird durch die Neubauten relativiert, darf nicht mehr allein dominieren.

Früher drohte diese unheimlich lange Klosterfront viel herrischer, es gab hier eigentlich nur Landschaft und diesen harten Trakt, das Dorf unterhalb fiel nicht in Betracht. Wenn man vom Lukmanier kam, sah man das weissglänzende Gebäude in der Ferne blinken, und der Dichterpfarrer Hauser aus Sisikon, welcher ein Anhänger von Paul Claudel war und oft im Kloster Ferien machte, hat sich denn auch einen passenden Vers darauf gemacht – O du weisse Arche am Rand des Gebirges. […]

*

Wie war es mit der Freiheit damals bestellt?

«Aufstehen um viertel nach fünf. Dieser Summton! In den Schlafsälen dünstet der Jungmännerschweiss. Aufstehen, in die Pantoffeln fahren, hinausschlurfen im Pyjama in den Waschsaal, das Zahnbürstchen aus dem Schränklein nehmen, jeder hat sein eigenes mit einer Nummer, Wasserstrahl, es gibt nur kaltes Wasser, faulig schlägt’s den Halberwachten aus dem Waschtrog entgegen, der Präfekt geht auf und ab in den Gängen, Brevier lesend, ab und auf, das Zurückfluten der Zöglinge in den Schlafsaal beobachtend, hat Heilandsandalen an den Füssen, und jetzt in die Kleider gefahren, wo sind die Socken, oben im Kasten, nein, da ist die Schokolade vom letzten Liebesgabenpaket der Mutter, der lange Summton setzt aus, jetzt dreimal kurz, das bedeutet Pressieren, hinunter in den Studiensaal, dort wartet schon die Muttergottes spätgotisch und dominiert den Studiensaal, und jetzt Händefalten. Jetzt wird aber sofort gebetet.

Ave Maria gratia plena. Vobiscum, cuicumque, omnia sua secum portans. Das lateinische Gebet, fliessend geht es über in das Studium des Lateinischen, immer sofort nach dem Gebet studieren, Gallia omnis divisa est in partes tres. Am Nachmittag wird bei Pater Vigil Lateinkompos sein, Cäsar droht schon und hat wieder einmal Gallien besetzt, Ora und dann aber labora, in wie viele Teile zerfällt Gallien, die Angst krampft schon die Mägen zusammen. Kalter Schweiss zum voraus, eine Stunde Studium. Und dann im Gänsemarsch hinunter in die kältende, durchkältete Kirche, Marienkirche oder Hauptkirche, mit herausgestreckten Zünglein, falls in der Nacht nicht eine Befleckung oder Selbstschwächung, wie man das Onanieren mit dem katholischen Fachausdruck nannte, eingetreten ist, die Hostie mit dem darin enthaltenen Herrn-Gott empfangen, wenn Selbstschwächung, dann zuerst beichten, am besten bei Pater Pius, der macht einen vernünftigen Tarif und hört auch nicht mehr gut, Nachlass der Sünden für nur drei Ave Maria, ein günstiger Tausch, um 7 Uhr ist die Messe aus. Vorbei an der Krypta, wo die vielen Votivbilder hängen, und schon wieder eine Muttergottes, die Huldigung und Examensangst entgegennimmt, bist die einzige Frau hier weit und breit. Dein im Leben und im Tod, Dein in Unglück, Angst und Not, das nächste Unglück kommt sofort, um viertel nach sieben Morgenessen, dünner Kaffee, schlechte Konfitüre und Butter nur an Feiertagen, aber das Brot ist manchmal frisch und gut.

Sodann:

7.45–8.45 Uhr Studium

8.45–12.00 Uhr Schule

12.00–12.30 Uhr Mittagessen

12.30–13.30 Uhr Spaziergang

13.30–14.00 Uhr Studium

14.00–14.45 Uhr Schule

15.00–15.30 Uhr Nachmittagstee

15.30–16.00 Uhr Studium

16.00–17.00 Uhr Schule

17.00–18.00 Uhr Studium

18.00–18.30 Uhr Nachtessen

18.30–19.30 Uhr Rekreation

19.30–20.30 Uhr Studium

20.30–20.35 Uhr Nachtgebet

20.35–20.50 Uhr Waschen und

Zähneputzen

20.50–20.55 Uhr Lichterlöschen

21.00–5.15 Uhr Schlaf

In den Schlafsälen gab es je einen Schlafsaalmeister, welcher für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte. Es schliefen ca. 50 Eleven in einem Saal. An Sonn- und allgemeinen Feiertagen wurde der Tagesablauf insofern modifiziert, als keine Schule stattfand, dafür mehr Kirche. Die Messe war dann länger. Hochamt. Im Monat Mai kam 19.30 Uhr die Komplet dazu, das kirchliche Nachtgebet. Die war lateinisch wie die Vesper, und der gregorianische Choral war schön. Alte Strophen aus dem 9. Jahrhundert wurden gesungen, Beschwörungsformeln, Procul recedant somnia et noctium phantasmata. Hostemque nostrum comprime ne polluantur corpora. Weit mögen die Träume und die Trugbilder der Nacht von uns weichen; halt unsern Feind darnieder, damit die Körper nicht befleckt werden. Nach der Komplet ging es in Zweierreihen hinauf in den Schlafsaal, und dort konnte der Feind, welcher zwischen den Beinen der Zöglinge baumelte, manchenorts nicht darniedergehalten werden und ist immer grösser geworden, bis er dann halt explodierte. (Der Feind war ein Teil von uns.)»

So habe ich mir das 1980 notiert, […].

*

Weisst du noch … Pater Odilo […] die Mechanik der Grossen Revolution hat er so lange und präzis geschildert, dass sie uns wirklich einzuleuchten begann und man sich Gedanken darüber machte, wie denn nun ein Umsturz in der Klosterschule, und auch sonst, zu bewerkstelligen wäre. Ganz ähnlich Pater Basil, der uns Philosophie erteilte. (Drei Jahre lang wurde Philosophie studiert.) Hegel konnte er auf den Tod nicht leiden, aber die Dialektik hat er uns so lange, zwecks Widerlegung, erklärt, bis sie schmackhaft wurde und wir seiner These eine Antithese entgegenzustellen in der Lage waren, und in der Synthese waren wir sodann recht gut aufgehoben. Es war übrigens nicht so, dass man schlechte Noten kriegte, wenn man in den ideologischen Fächern dem katholisch-konservativen Standpunkt widersprach; schlecht benotet wurden das unlogische Denken, die Argumentationsschwächen, die geistige Faulheit. […]

*

Am Samstag abend, nachdem die gegenseitige Beschnupperung der Klassenkameraden ohne weitere Zwischenfälle erfolgt war, schritt man zum Nachtessen im Hotel Soundso. Es lockerte sich jetzt einiges, man kam ins Reden und Erinnern, durfte etwas tiefer schürfen, und nachdem die beiden Patres, welche am Nachtmahl partizipiert hatten, wieder im Kloster verschwunden waren, war es vielleicht an der Zeit, delikate Probleme aufzutischen und ein wenig die Vergangenheit aufzuhellen. Der Wein tat ein übriges. Wie war das bei dir, fragte ich Hanspeter, hast du auch die erotische Ausstrahlung des Bruno so stark empfunden wie ich? Und gab gerne zu, dass mich der zierliche Bursche, der jetzt leider abwesend war, immer fasziniert hatte. Es ging so etwas von ihm aus … Man hätte ein Holzklotz sein müssen, um das nicht zu spüren. Ausserdem ging von den Frauen, die sich in unserm Gesichtsfeld aufhielten, gar nichts aus, die Muttergottes in der Krypta war aus Gips, jene im Studiensaal aus Holz, die Klosterfrauen, die den Mönchen die Wäsche besorgten und gleich neben dem Kloster wohnten, waren mit ihren Tschadors verhüllt, und die beiden Frauen aus dem Dorf, welche am Morgen jeweils die Betten und Säle wieder in Ordnung brachten […], waren von den Präfekten so ausgewählt worden, dass man sie wirklich nicht begehrte. Prinzipiell kamen für diesen Job nur die hässlichsten Frauen aus dem Dorf in Frage. Also hat man sich für männliche Körper zu interessieren begonnen, klar, irgendwohin musste die Sehnsucht sich richten können, aber das war selbstverständlich streng verboten, obwohl man im Griechischen dann doch wieder einiges über die Vorteile der gleichgeschlechtlichen Liebe erfuhr.

Liebeleien?

Eigentlich kaum etwas Direktes, Offenes, aber ständig eine latente Erotik, ein An- und Abschwellen der Gefühle, man hat mehr oder weniger um die Gunst, z.B. in unserer Klasse um Brunos Gunst, gebuhlt. Passiert ist nicht viel, im positivistisch-erfassbaren Sinn sogar fast nichts, und das war eigentlich ein Wunder, bei dem ständigen engen Beisammensein. […]

Was aber erfährt man jetzt, 25 Jahre post festum?

Dass Hanspeter total in Beat verschossen gewesen ist, mit dem mich eine nun wirklich total platonische Freundschaft verband, fand diesen überhaupt nicht anziehend, man konnte lediglich gut mit ihm reden. Hanspeter aber war eifersüchtig und hat mir die Nähe zu Beat, mit dem er gern etwas Reales erlebt hätte, missgönnt und sich deshalb mir gegenüber als Rivale benommen und immer die Vorzüge der Pommes-frites-Pfanne seiner Mutter […] herausstreichen müssen. Ekelhaft. Anderseits erfährt man jetzt auch, dass Hanspeter das Privileg genoss, mit dem lieben Bruno auf dem Estrich eines alten Hotels, in das sie einzubrechen pflegten, Seite an Seite liegend in Büchern zu schmökern, ohne dass er seinerseits die geringste Versuchung gespürt hätte, mit Bruno etwas anzufangen.

Wir haben übers Kreuz geliebt und nicht davon reden können (dürfen), und heute, wo endlich Klartext gesprochen werden darf, stellt Bruno keinerlei Verlockung mehr für mich dar.

Ist das nicht schade?

(aus: Niklaus Meienberg, «Reportagen» © by Limmat Verlag, Zürich.)

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