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Innerschwyz und Ausserschwyz – ein historisches Spannungsfeld

Seit dem Spätmittelalter war das Gebiet des heutigen Kantons Schwyz immer wieder von Unruhen und Konflikten geprägt. Ein Spannungsfeld, das sich bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten hat, ist das Konfliktfeld zwischen dem Alten Land Schwyz und den «Angehörigen Landschaften».

Südostschweiz
13.07.13 - 02:00 Uhr

Von Valentin Kessler

Schwyz. – Im Gebiet des heutigen Kantons Schwyz herrschten in den Angehörigen Landschaften bis 1798 unterschiedliche Rechtsverhältnisse gegenüber dem obrigkeitlichen Schwyz. Den Märchlern wurde im 15. Jahrhundert zunächst weitgehende politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit zuerkannt. Ebenso genossen die Küssnachter, seit 1402 durch Kauf an Schwyz gekommen, vorerst grosse Autonomie. Deutlich eingeschränkter gestalteten sich die Beziehungen zwischen dem Alten Land und den Höfen Wollerau und Pfäffikon, die seit 1440 von einem Schwyzer Vogt und einheimischen Untervögten verwaltet wurden. Gleichzeitig nahm das Kloster umfangreiche Besitzerrechte wahr. Einsiedeln war seit 1415 (Verleihung des Blutbanns) respektive 1424 (Verleihung des Kastvogteirechts) unter Schwyzer Hoheit. Gersau, seit 1433 reichsunmittelbar, blieb bis 1798 eigenständig.

Mit der zunehmenden Aristokratisierung in Schwyz seit dem 16./17. Jahrhundert wurden die Rechtsverhältnisse zuungunsten der einzelnen Landschaften beschnitten – Änderungen, die auch Unruhen nach sich riefen. Schwyz forderte belastende Abgaben und Steuern, beschnitt die altgewährten Freiheiten und Kompetenzen und begann, die Angehörigen Landschaften als Untertanengebiete zu bezeichnen und behandeln; die Spannungen nahmen seither zu.

Märchler fordern Rechte zurück

In den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts verschärfte sich das Verhältnis zwischen der March und dem Alten Land Schwyz. Die Märchler forderten beharrlich von Schwyz jene Freiheiten zurück, die sie einst von Schwyz erhalten hatten, die aber von Schwyz im Verlauf der Zeit sukzessive beschnitten wurden. Steuerdruck, willkürliche Bussenpraxis, Ausfuhrverbote für Holz, Heu und Vieh und Handelsbeschränkungen (Schifffahrt, Fischerei, Viehhandel etc.) waren für die Unzufriedenheit der Märchler verantwortlich. Das Misstrauen der Märchler erreichte seinen Höhepunkt im Jahr 1798 beim Einmarsch der Franzosen in die Schweiz und in die Innerschweiz. Als Schwyz die Angehörigen Landschaften zum Kriegsdienst rief, verweigerten die Märchler mit Hinweis auf die Restituierung der alten Rechte den Dienst. Schliesslich erteilte die Landsgemeinde die Freiheit vorerst Einsiedeln, Küssnacht und den Höfen – wenige Wochen später auch den Märchlern. Mit der Helvetik gab es schliesslich im ganzen Gebiet der Schweiz keine untertänige Landschaft mehr.

Schwyz zerfällt in drei Gebiete

Mit der anschliessenden Restauration setzte Alt-Schwyz alles daran, das Rad der Geschichte nochmals kräftig zurückzudrehen; faktisch regierte ab 1814 wieder das Alte Land im Kanton. Nachdem die Forderungen der politisch schlechter gestellten äusseren Bezirke in Schwyz kein Gehör gefunden hatten, zerfiel der Kanton von 1831 bis 1833 in die drei Gebiete Ausserschwyz (March, Pfäffikon, Einsiedeln und Küssnacht), Gersau und Schwyz mit Wollerau. Nach der militärischen Besetzung von Küssnacht durch Alt-Schwyz ordnete die Eidgenössische Tagsatzung die militärische Besetzung des Kantons Schwyz durch eidgenössische Truppen an. Die Bezirke einigten sich auf eine Wiedervereinigung. Trotzdem blieb der Kanton Schwyz bis zur Kantonsverfassung von 1848 ein unruhiges Pflaster.

Unmut manifestiert sich 1975

In den Köpfen vieler Ausserschwyzer blieb die Vorstellung des obrigkeitlichen Schwyz jedoch verhaftet. Im Sommer 1975 fand die Unzufriedenheit einiger Ausserschwyzer in der Forderung nach einem Kanton Ausserschwyz seinen Ausfluss. Vermutlich handelte es sich hierbei eher um die Entladung von aufgestautem Missmut, eher um Provokation als ernsthafte Absicht. Ernst gemeint war den Agitatoren hingegen der Hinweis auf einen gleichwertigen Partner Ausserschwyz, was in verschiedenen Forderungen (Dezentralisation von Amtsstellen, stärkeres Ausserschwyzer Gewicht in Regierung, kantonalen Kommissionen und Verwaltung, Ausbau der Kantonsschule Pfäffikon und weitere mehr) zum Ausdruck gebracht wurde.

Die Angelegenheit fand in den Medien starken Niederschlag; und in den verschiedenen Beiträgen wurde oft auch auf die einstige Abhängigkeit von Schwyz hingewiesen. Man las von «Unmut gegen alles Obrigkeitliche» oder von «Köpfen, die mehr als sakrosankt ‹herrschen› nach alter Manier». Sehr schnell fällt in diesem Zusammenhang die Bezeichnung «Stehchrägler» – eine unschöne Titulierung über die «Alt-Land-Schwyzer». Über den Ursprung dieses Begriffs finden sich Vermutungen.

Stehkragen – Teil der Amtstracht?

In seiner Schilderung über den genauen Ablauf einer Maienlandsgemeinde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schilderte Pfarrer Thomas Fassbind (1755-1824) was folgt: «Um 10 uhr ward mit der grossen glogge das zeichen zu der landsgemeind gegeben. Worauf sich der ganz rath schwarz gekleidt mit mantel und kragen und degen auf dem rathhaus versammlete …» Auf die Tracht der «Rathsherren» mit «Kragen», «Mantel» und «Degen» wird auch in verschiedenen Ratsprotokollen des 18. Jahrhunderts verwiesen. Dem patrizisch-absolutischen Beigeschmack des Begriffs «Stehchrägeler» wäre somit Rechnung getragen.

Stehkragen kam ab 1850 in Mode

Der Schwyzer Namenforscher Viktor Weibel sieht in der Bezeichnung der Schwyzer den Ausdruck des alten problematischen Verhältnisses der übrigen Bezirke gegenüber dem Alten Land Schwyz. «Der hochgestellte Kragen hat alte Tradition und, wer etwas auf sich hielt, trug diesen hoch und galt daher als vornehm oder – spöttischer – als blasiert. Vielleicht machte der Stehkragen den Träger auch steifer um den Hals, den er eventuell stärker recken musste, und damit wirkte er hochmütiger.»

Allerdings vermutet der Namenforscher, dass der ironisch-spöttelnde Begriff erst im 19. Jahrhundert aufgekommen sei. Diese Annahme wird auch dadurch erhärtet, dass der Stehkragen (sog. Vatermörder) nach 1850 Mode geworden ist. In seinem Mundart-Wörterbuch definiert der Muotathaler Alois Gwerder den Begriff als «Schimpfname für Beamte (Leute mit Stehkragen)».

Valentin Kessler ist Vorsteher des Amtes für Kultur und Staatsarchivar.

Die diesjährige Sommerserie im «Boten», geschrieben von den Mitarbeitern des Amtes für Kultur, beschäftigt sich mit sogenannten Schwyzer «Erinnerungsorten». Gemeint sind damit nicht nur real existierende geografische Orte, sondern auch «Gedächtnisorte» in einem weiter gefassten Sinn. Es können genauso mythische wie reale Personen sein, besondere Ereignisse, Institutionen, Bräuche und Feste oder Begriffe wie auch Bücher, Kunstwerke und vieles Weitere mehr. Allen diesen «Erinnerungsorten» innewohnend ist die hohe symbolische Bedeutung, die für die jeweiligen Bevölkerungsgruppen respektive Nationen eine identitätsstiftende Funktion hat. Sie können dem Zeitgeist unterworfen sein, an Popularität gewinnen oder verlieren. (red)

Schwyz. – Peter Heinzer-Hubli eröffnete in den 1940er-Jahren ein Kleidergeschäft an der Schwyzer Herrengasse. Er wird im August 101 Jahre alt und erinnert sich noch lebhaft an die damalige Mode. Es war die auslaufende Zeit des Stehkragens. «Ich habe sie im Schaufenster ausgestellt und gut verkauft. Die einfachen Leute trugen sie am Sonntag, die Beamten auch während der Woche.» Ausser dem Hemd und dem losen Kragen habe es noch eine dritte Ausführung gegeben, wobei der steife Kragen durch ein steifes Band auf den Schultern abgestützt worden sei. «Diese Ausführung hatte ich nicht im Sortiment, die musste ich bestellen.»

Im Männerchor – dessen Mitglieder meist einflussreiche Gewerbler oder Aristokraten waren – wurde der Stehkragen bis in die 1950er-Jahre getragen. Die «Mehbesseren» waren damals mit den Aktivmitgliedern aus einfachen Verhältnissen noch per Sie, wie sich der Brauchtumsforscher Hans Steinegger aus Erzählungen seines Grossvaters erinnert.

Nicht nur Höfner oder Märchler verpassten den Bewohnern des Hauptortes den despektierlichen Namen «Stehchrägeler». Auch Seebner und Ibächler gebrauchten dieses Schwimpfwort für die «Herren von Schwyz». Es galt als Bezeichnung für Aristokraten und Beamte, welche vom «normalen» Volk, das schwere Handarbeit verrichtete, als faul eingestuft wurden. Sie wohnten in Schwyz mit dem markanten Verwaltungssitz des Rathauses, weil dort auch ihr Arbeits- und Wirkungsort war. (ste)

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