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Helden des Alltags inmitten des mythischen Getümmels

Die Bündner Argo-Stiftung feiert 40-jähriges Bestehen. Was liegt näher, als das Jubiläum mit einem Theater rund um die «Argo» zu begehen – dem Heldenschiff aus der griechischen Mythologie? Das fand auch Regisseur René Schnoz.

Südostschweiz
23.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Von Carsten Michels

Chur. – Heutzutage würde Jason vermutlich eine Zeitungsannonce aufgeben: «Junger Adliger sucht Mitreisende für maritime Abenteuerfahrt. Mut, Kraft und Einfallsreichtum Voraussetzung. Angsthasen zwecklos.» Wie Königssohn Jason einst seine glorreiche Truppe zusammenbekam, um mit ihnen an Bord der «Argo» in See zu stechen, darüber schweigt die griechische Mythologie. Irgendwie hat er sie jedenfalls zusammengetrommelt: 50 Helden – darunter Herakles, Theseus, Nestor und Orpheus; aber auch Telamon, Peleus, Menoitios und Laertes, deren Söhne später im Kampf um Troja zu Ruhm gelangen sollten.Jasons Mission war klar: Mit seinen Kumpanen – die sich dem Schiffnamen nach Argonauten nannten – hatte er die Aufgabe, das geraubte Goldene Vlies von der Insel Kolchis nach Thessalien zurückzuholen, ins Land seiner Vorväter, wo der Thron auf ihn wartete.

Eine spezielle Theaterfassung

Die sagenhafte Reise, in deren Verlauf die Argonauten zahlreiche Abenteuer zu bestehen haben, inspirierte Künstler der Antike wie neuzeitliche Maler und Literaten. Selbst Hollywood brachte das Schicksal der Helden 1963 als Monumentalfilm in die Kinos. Auf die Bühne fand der Stoff zumeist allein über das Medea-Motiv. Nun aber hat der Bündner Autor, Regisseur und Schauspieler eine spezielle Theaterfassung konzipiert, die am Freitag, Samstag und Sonntag in Chur zur Aufführung kommt. Gut 70 Mitwirkende zählt das Projekt – von der Mannschaft hinter den Kulissen abgesehen allesamt Betreuer und Betreute der Argo-Stiftung «Bündnerische Werkstätten und Wohnheime für Behinderte».Hintergrund: Die Stiftung feiert in diesem Jahr ihr 40-Jahr-Jubiläum. Den Gründervätern gefiel es dazumal, die Stiftung nach Jasons Schiff zu benennen. Die Analogie zu den Helden im selben Boot, von denen jeder über eine besondere Fähigkeit verfügt, war wohl ganz im Sinne der Stifter. Denn was sind die Argo-Schützlinge anderes als Helden des Alltags, die – mit einer Behinderung im Gepäck – das Abenteuer ihrer Lebensreise stets aufs Neue zu bestehen haben?

Eisenmänner in Rollstühlen

Schnoz schuf der bunten Truppe ein grandioses Tableau, vor dessen Hintergrund die Geschichte der Argonauten auf verblüffende Weise erzählt wird. Nach dem Aufführungsort würde sich die Churer Künstlergruppe In Situ vermutlich alle zehn Finger lecken: das Areal der Vögele Recycling AG an der Churer Industriestrasse. Dort, zwischen riesigen Ballen aus gepresstem Altpapier, besteigen Herakles (Attilio Derungs) und Orpheus (Dino Koch) ihr rostiges Schiff; dort gleiten die Eisenmänner (Daniel Schmid und Dogan Sari) in Rollstühlen kampflustig aufeinander zu; dort befiehlt die Königin der Amazonen (Livia Corbella) ihren Kriegerinnen, die Waffen sinken zu lassen; und Medea (Sonja Vinzens), von Eros' Pfeil getroffen, hilft Jason (Oliver Krättli) schliesslich, das Goldene Vlies zurückzuerobern. Vorangetrieben wird das Stück durch die beschwingte Musik von Goran Kovacevic (Akkordeon) und Enrico Lenzin (Schlagzeug). Und über allem – wo sonst? – thronen die Götter in einem Olymp, dem Bühnenbauer Claudio Banzer mittels Alufolie zu standesgemässem Glanz verholfen hat.Seinem Kollegen Rolf Schmid schrieb Schnoz eine Paraderolle auf den Leib. Als in die Mythologie hineingeschmuggelter Prixos erzählt und kommentiert Schmid die Geschichte ebenso witzig wie respektlos. Den Göttern wäre Hören und Sehen vergangen, und die alten Griechen hätten Bauklötze gestaunt. Nebenbei kann Schmid jederzeit behutsam eingreifen, um dem einen oder anderen Argonauten auf die Sprünge zu helfen, falls nötig.

«Die Argonauten». Premiere: Morgen Freitag, 20 Uhr. Weitere Aufführungen: Samstag, 25., und Sonntag, 26. September, jeweils 20 Uhr, Industriestrasse 5a, Chur.

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