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Fischerei-Experten schlagen Alarm

Vierwaldstättersee Weil der See zu sauber ist, gibt es immer weniger Fische. Den Speisefischbedarf darum mit Indoor-Zuchten zu decken, das wird von Experten allerdings scharf kritisiert.

Südostschweiz
10.06.14 - 02:00 Uhr

Stephan Santschi

stephan.santschi@luzernerzeitung.ch

Roman Ensmenger geht an der Reuss entlang und schüttelt immer wieder den Kopf. «Äschen, Alets, Forellen, Barben – hier hat es einmal vor Fischen nur so gewimmelt», sagt er und blickt wehmütig ins Wasser. Und jetzt? «Jetzt kommen der Vierwaldstättersee und die obere Reuss in Luzern einer leblosen Trinkwasserwüste gleich», bedauert der studierte Biologe und Hobbyfischer aus Kriens. In der Tat bleibt bei der Stippvisite an der Reuss eine Seeforelle das einzige Highlight unter der Wasseroberfläche.

Fünfmal weniger Albeli

Die Aussagen von Ensmenger werden von Otto Holzgang, dem Abteilungsleiter Natur, Jagd und Fischerei bei der Dienststelle Landwirtschaft und Wald (Lawa) des Kantons Luzern, mit Zahlen bestätigt. Laut Statistik haben die Berufsfischer im Jahr 2013 10,6 Kilo Fisch pro Hektare gefangen. Vor dreissig Jahren waren es über dreimal mehr (siehe Grafik). «Wir stellen einen markanten Rückgang des Fischbestandes im Vierwaldstättersee fest. Vor allem das Albeli, eine kleine Felche, ist davon betroffen. Das ist keine schöne Situation», erklärt Holzgang.

Seit 1986 sind die Erträge der Berufsfischer kontinuierlich zurückgegangen. Die Bestände des erwähnten Albelis etwa sind ums Fünffache geschrumpft, von 25,8 Kilo pro Hektare im Jahr 1986 auf bloss noch 4,8 Kilo im vergangenen Jahr.

Mangel an Nährstoffen

Für den Biologen Ensmenger ist klar, warum der Rückgang des Fischbestandes im Vierwaldstättersee derart drastisch ist. «Das Wasser ist zu sauber, es gibt zu wenig Nährstoffe.» Verantwortlich dafür seien die immer leistungsfähigeren Kläranlagen, die das Phosphat aus den Abwässern filtern. Der fehlende Phosphor hemme die Produktion von Plankton, womit die Nahrungskette der Fische unterbrochen werde.

Ferner spüle das Kleinwasserkraftwerk am Mühlenplatz in Luzern die Fische regelrecht die Reuss hinunter, stellt Ensmenger fest. Ausschlaggebend dafür sei der sogenannte Sunk- und Schwallbetrieb. Mit Schwall wird der künstlich erhöhte Abfluss zur Stromproduktion bezeichnet. Sunk steht für die Niedrigwasserphase in Zeiten mit geringem Strombedarf. «Für Jungfische ist der Druck der Strömung beim Schwall zu gross. Der Sunk eliminiert die Laichplätze am Ufer.»

Die Stauung des Wassers am Kraftwerk am Mühlenplatz wirke sich auch auf den See aus. «Wegen des verminderten Abflusses verringert sich die Strömung in den einzelnen Buchten. Dadurch gelangt dorthin weniger nährstoffreiches Wasser», sagt Ensmenger. «Einerseits hat es zu wenig Nährstoffe, andererseits kommen nicht alle Fische an sie heran.» Es wäre so, als ob die Migros ihre Produkte nur in der Betriebszentrale in Dierikon verkaufen würde und der Rest der Schweiz nicht an sie herankommen könnte.

«100 Tonnen Fisch fehlen»

Für Roman Ensmenger steht fest: «Wir sprechen hier von insgesamt rund 100 Tonnen Fisch, die uns fehlen.» Eine Entwicklung, die im krassen Gegensatz zum steigenden Fischbedarf der Schweizer Bevölkerung steht. Der Pro-Kopf-Konsum ist seit 1980 um rund 3 Kilo auf heute mehr als 9 Kilogramm Fisch und Meeresfrüchte pro Jahr angewachsen. Über 90 Prozent davon werden importiert. Ein fischreicher Vierwaldstättersee würde angesichts der gestiegenen Nachfrage nach Speisefischen also durchaus Sinn machen. «Fisch aus unseren Gewässern ist das Naturprodukt schlechthin. Einheimische Ressourcen sollten wir nutzen können», sagt Otto Holzgang vom Lawa. Beim Vierwaldstättersee bestehe aber ein Interessenkonflikt zwischen Trinkwasserqualität und volkswirtschaftlichem Nutzen. Erstere geniesse in der Politik Priorität, so Holzgang.

Eine gute Wasserqualität sei zweifellos wichtig, «wir müssen aber aufpassen, dass wir aufgrund des Phosphormangels nicht in ein Problem bei der Berufs­fischerei hineinlaufen».

Kantone haben Problem erkannt

Innerhalb der Fischereikommission mit Geschäftsführer Holzgang und der Aufsichtskommission des Vierwaldstättersees, denen die Kantone Luzern, Uri, Schwyz sowie Unterwalden angehören, werde das Thema bald diskutiert. Bereits umgesetzt werden verschiedene Massnahmen zur Förderung der Seeforelle, deren Bestand im Vierwaldstättersee stark gefährdet ist.

«Indoor-Fischerei ist Blödsinn»

Im Gegenzug boomen die Fischzuchten. Derzeit sind im Kanton Luzern Vorabklärungen für den Aufbau mehrerer Indoor-Fischmastanlagen im Gange. «Im Vierwaldstättersee fehlt der Fisch, gleichzeitig baut man Fischzuchten. Das kann es doch nicht sein», findet Biologe Ensmenger.

Ähnlich wie Roman Ensmenger sieht dies Franz Häfliger, der Präsident des Luzerner Fischereiverbands: «Indoor-Fischerei ist bedenklich und ökologischer Blödsinn.» Häfliger betrachtet den Fischmangel als teilweise hausgemacht. «Es werden zu kleine Fische, die sich noch vermehren könnten, gefischt. Wir sind bestrebt, die Fangmasse, also die Länge der Tiere, die gefischt werden dürfen, heraufzusetzen.»

Hier müsse eine gesamtschweizerische Lösung gefunden werden. «Daran arbeiten die Fischereiverbände», so Franz Häfliger.

Kläranlagen drosseln?

Eine mögliche Massnahme zur Steigerung des Fischbestandes wäre das Phosphor-Management, wie es letztes Jahr der Berner Nationalrat Erich von Siebenthal (SVP) in einer Motion vergeblich für den Brienzersee forderte. Hierbei geht es um eine reduzierte Phosphat-Filterung in Kläranlagen. Häfliger rät davon ab. «Die Bauern und andere Gewässerverschmutzer könnten denken, dass sie Gülle und ungereinigtes Wasser in den See und in die Bäche abfliessen lassen dürften. Das käme wie ein Boomerang auf uns zurück. Und dies nach Jahren, in denen wir hart um sauberes Wasser gekämpft haben.»

«Über das Ziel hinausgeschossen»

Roman Ensmenger sieht dies anders. Er wird sich weiterhin für mehr Phosphor und folglich mehr Fische im Vierwaldstättersee einsetzen. «Ich liebäugle im nächsten Jahr mit einer Kandidatur für den Kantonsrat, um mehr Einfluss zu gewinnen», sagt CVP-Sympathisant Ensmenger, der von 1987 bis 1991 für die Grünen im Luzerner Grossen Rat sass.

Er ist überzeugt: «Saubere Gewässer sind eine gute Sache. Doch bei uns ist man über das Ziel hinausgeschossen. Mehr Fische würden den Lebensraum im Wasser aufwerten. Das käme den Berufsfischern und dem Tourismus zugute.»

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