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«Ein Schuh ist etwas Hochkomplexes»

Cleo Krebs werkt und wirkt im Zürcher Kreis 4. Dort repariert sie alte Lieblingsschuhe und entwirft ausgefallene Kreationen für die Bühne. Die Schuh-macherin im ersten Lehrjahr mag es aber am liebsten klassisch.

Südostschweiz
19.07.12 - 02:00 Uhr

Von Ursula Binggeli, Zürich

Ein Schuh kommt nie alleine. Immer gibt es deren zwei, und immer muss der eine dem anderen so sehr ähneln, dass die beiden ein harmonisches Paar abgeben. Seit sie im Sommer 2011 ihre Lehre angetreten hat, weiss Cleo Krebs, dass diese Harmonie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine schuhmacherische Herausforderung. Denn: «Es sind Millimeter, die über die Form eines Schuhs entscheiden.» Handgefertigte Schuhe sind Meisterstücke.

Die junge Lehrtochter, Jahrgang 1993, aufgewachsen in Twann am Bielersee, ist für ihre Schuhmacherlehre vom «Winzerkaff», wie sie es liebevoll nennt, in den Zürcher Stadtkreis 4 gezogen, ein lebendiges Quartier mit hohen, alten Stadthäusern, verwinkelten Hinterhöfen und einem bunten Mix von Gewerbe und Dienstleistung. Von der Kinderkrippe übers Stripteaselokal bis zum Grafikatelier gibt es hier alles, Tür an Tür. Mitten drin: die Schuhmacherei von Eva Kirchhofer, von weitem erkennbar durch ein Schild, das – schwarz auf hellblau – eine schicke Stiefelette mit mörderisch hohem Absatz zeigt.

Im kreativen Universum

Als sie auf ihrer Lehrstellensuche die Schuhmacherei das erste Mal betreten habe, erzählt Cleo, sei ihr sofort klar gewesen: Das ist es! Ihr gefielen die Räume – «schön offen» –, das Ambiente – «ein bisschen flippig» – und die Inhaberin – «sie ist mit Herzblut dabei». Und dann die Werkstatt! Verschiedene, zum Teil altehrwürdige Schuhnähmaschinen, Schleifmaschinen, eine Sohlenpresse, Ausweitmaschinen, unterschiedlichste Zangen, Hämmer, Scheren und Messer, daneben Leimtöpfe und Fadenrollen, das Ganze garniert mit vielen Pflanzen und die pastellgrünen Wände mit Bildern und Plakaten behängt: ein regelrechtes handfest-kreatives Universum.

Und mittendrin heute also Cleo, die eine kleine Führung durch den Betrieb gibt und am Schluss lächelnd sagt: «Ich bin mega glücklich hier.» Zu Beginn war die Schuhmacherei totales Neuland für sie. «Am Anfang der Lehre hatte ich davon keinen blassen Schimmer.»

Das «Herz» des Schuhs

Das hat sich unterdessen geändert. Sie nimmt ein halbfertiges Modell von einem Gestell herunter und weist auf die sogenannte Brandsohle, die Innensohle, auf welcher die Fusssohle ruht. «Ich nenne sie das ‘Herz’ des Schuhs.» An der Brandsohle werden sowohl der Schaft, also das Schuhoberteil, als auch die äusseren Sohlenschichten samt Absatz befestigt. Die gleichzeitig weiche und stabile Brandsohle hält den Schuh zusammen und gibt ihm seine Festigkeit. Der Rahmen, die Vorderkappe und die Hinterkappe runden das Ganze ab.

Das tönt einfach, ist es aber nicht. «Ein Schuh ist etwas Hochkomplexes», sagt Cleo. Und: «Seine Konstruktion ist während unendlich vielen Jahren ausgetüftelt worden.» Tatsächlich gibt es fast so lange Schuhe, wie es Menschen gibt. Bereits der im Gletschereis konservierte Oetzi trug eine Art Mokassin aus Fell, die ägyptischen Pharaonen schützten ihre Füsse mit Sandalen, und die römische Armee war auf benageltem Schuhwerk unterwegs. Das eigentliche Schuhmachergewerbe entstand in Mitteleuropa um etwa 500 nach Christus – vor 1500 Jahren.

Begeisterung fürs Schlichte

In einem guten Schuh schlägt sich also eine lange Geschichte nieder. Cleo weiss das zu schätzen. Wenn sie einen Schuh sieht, bei dem die Form stimmt und Eleganz und Schlichtheit sich mit einer Prise Zeitlosigkeit vereinen, ist sie hellauf begeistert. Ihre Favoriten sind nicht Pumps oder Ballerinas oder High Heels, sondern das Klassischste vom Klassischen. «Ich stehe auf schön gemachte Herrenschuhe.»

Zum schönen Schuh gehört edles Material. Die Lehrtochter arbeitet gerne mit Leder, sie findet es angenehm und ziemlich praktisch. Denn obwohl man damit sehr genau arbeiten müsse, so könne man notfalls auch ein kleines bisschen «mogeln»: Leder lässt sich ein Stück weit dehnen, es gibt nach, es geht mit. «Manchmal ziehe ich meine Schwester damit auf, dass ich in meinem Beruf mogeln kann und sie nicht.» Die ältere Schwester hat ein Handwerk gelernt, bei dem Präzision Programm ist: Sie ist Uhrmacherin.

Zum grossen, urbanen Zürich hat Cleo ein Verhältnis, das ein bisschen nach «Ja, aber» klingt. Einerseits ertappt sie sich dabei, wie sie in der Schuhmacherei Kunden auf Zürichdeutsch zu bedienen beginnt. Andererseits stört sie an Zürich, dass «alle immer hinter den neusten Modetrends her rennen. Nichts hat Bestand. Nichts überdauert.»

Da ist es doch gut, dass in der Schuhmacherei ein anderer Wind weht. Lehrmeisterin Eva Kirchhofer, 40, hatte als Kind Archäologin werden wollen, und diese Affinität zu alten Dingen hat sich bis heute erhalten. Die älteste der Schuhnähmaschinen stammt aus den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts. Wertschätzung erfahren aber auch die in die Jahre gekommenen Schuhe von Kirchhofers Kunden.

Wenn kurz vor dem Mittag jeweils die Eingangstür aufgeschlossen wird und die Schleifmaschine zu lärmen beginnt, tauchen schon bald die ersten Leute auf. Dreissig bis vierzig sind es täglich, die ihre Schuhe – von Dosenbach bis Prada – aus einer Tüte ziehen und fragend über den grossen Ladentisch strecken. Ein Nein bekommen sie nur selten zu hören. «Wir flicken wirklich fast alles», sagt Cleo. «Auch wenn die Schuhe bereits mega abgelaufen sind. Wir sind die letzte Chance für Lieblingsschuhe.»

Schuhe für die Theaterbühne

In der Schuhmacherei werden aber nicht nur Sohlen ersetzt, Spitzen erneuert und Absätze repariert. Meisterin Kirchhofer und ihre Mitarbeiterinnen erfüllen sehr gerne auch ausgefallene Wünsche. Aus normalen Herrenschuhen Tangoschuhe machen? Aber sicher. Die in Spanien gekauften, harten Flamencoschuhe auspolstern? Kein Problem.

Zu den Kunden gehört auch das Zürcher Schauspielhaus. «Wenn ein Schauspieler für eine Aufführung einen Schuh benötigt, in dessen Absatz ein kleines Fach eingebaut ist, aus dem Rauch dringen soll, dann machen wir das», erklärt Cleo. «Oft kommen die Theaterleute mit wirklich speziellen Anliegen zu uns. Wir entwickeln dann zusammen Lösungen, alle denken mit. Das ist total spannend.» Und manchmal sei es gerade gut, wenn sie als Berufsanfängerin naive Fragen stelle, weil man so mitunter auf neue Ideen komme.

Flair für Ästhetik

In ihrem ersten Lehrjahr hat sich die junge Schuhmacherin bisher vor allem in der Kunst des Flickens geübt und erste Erfahrungen an der Schuhnähmaschine gesammelt. Einen Tag pro Woche reist sie nach Zofingen AG an die dortige Berufsfachschule, die von allen angehenden Schuhmacherinnen und Schuhmachern aus der Deutschschweiz und aus Liechtenstein besucht wird. Von den sechzehn jungen Frauen und Männern in der Klasse von Cleo absolvieren zwölf die Ausbildung zum Orthopädieschuhmacher, in welcher gesundheitliche Aspekte im Vordergrund stehen: Es geht ums Herstellen von Spezialschuhen und Schuheinlagen, welche die Fussstellung oder Körperhaltung der Träger korrigieren.

«Für mich wäre das nichts», hält Cleo fest. In der Orthopädie werde oft mit Material gearbeitet, das ihr überhaupt nicht gefalle, wie etwa geschäumtem Gummi. «Ich habe es gerne ästhetischer.» So lernt sie zusammen mit drei Kolleginnen und Kollegen das «ganz normale» Schuhmacherhandwerk und freut sich sehr auf den Moment, wenn es in der Ausbildung nicht mehr nur ums Flicken von Schuhen geht, sondern auch ums Herstellen selbst.

Die Schuhmacherei sei ein solch grosses und weites Feld, dass sich nie und nimmer alles, was dazugehöre, in der drei Jahre dauernden Lehre erlernen lasse. Dessen ist sich Cleo bewusst. Sie denkt deshalb schon jetzt, am Ende des ersten Lehrjahrs, ans spätere Weiterlernen und an Weiterbildungen. «Natürlich kann man Schuhe nicht grundsätzlich anders konstruieren», sagt sie. «Aber es gibt viele verschiedene Varianten, vor allem punkto Form.» Je nach Land gebe es da ganz unterschiedliche Schulen, welche die junge Schuhmacherin unbedingt kennenlernen möchte – und zwar vor Ort, vielleicht in England, vielleicht in Italien. Immer auf der Suche nach dem ultimativen, «mega schönen» Schuh.

In einer 14-teiligen Serie porträtiert das «Bündner Tagblatt» Lehrlinge aus allen Regionen der Schweiz, die einen aussergewöhnlichen Beruf erlernen. Die Serie des SDA/SFD-Kulturdienstes ist mit finanzieller Unterstützung aus dem Kredit «Verständigungsmassnahmen» des Bundesamtes für Kultur (BAK) zustande gekommen. Heute erscheint der vierte Beitrag.

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