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Ein Mauerfäller und tragischer Held

Michail Gorbatschow ist der in Deutschland beliebteste Russe. Er hat den Berliner Mauerfall morgen vor 25 Jahren und die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht. Zu Hause aber ist «Gorbi» verhasst. Und vom Westen fühlt er sich betrogen.

Südostschweiz
08.11.14 - 01:00 Uhr

Von Moritz Gathmann

Berlin. – Sie klatschten und lachten. Lachten über den Präsidenten der Sowjetunion. Der versuchte, souverän zu bleiben, aber er spürte die Aussichtslosigkeit seiner Lage. «Das ist ein Fehler», stammelte er. Doch die Abgeordneten des Obersten Sowjets kannten keine Gnade mehr. Am 23. August 1991 wurde das Ende der politischen Karriere des Michail Sergejewitsch Gorbatschow eingeläutet. Boris Jelzin, Russlands Präsident, entschied den Machtkampf für sich, als er den Reformator der Sowjetunion während dessen Rede unterbrach, um vor laufenden Kameras ein Dekret über das Verbot der Kommunistischen Partei Russlands zu unterschreiben. Gorbatschow war ein Herrscher ohne Reich. Vier Monate später legte er sein Amt als Präsident der Sowjetunion nieder, und diese hörte auch theoretisch auf zu existieren. Gorbatschow wurde zum tragischen Helden.

Politisch längst erledigt

Aus Anlass des morgigen 25. Jahrestags des Mauerfalls weilt der 83-Jährige seit gestern in Berlin. Noch einmal lässt sich der gesundheitlich angeschlagene Politiker dort feiern, wo man ihn bedingungslos verehrt, weil er das Ende der Teilung erst ermöglichte. Zu Hause dagegen ist er gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion ein Aussenseiter. Fragt man Russen, sagen die meisten von ihnen, er habe das Land zerstört und seine Bewohner ins politische und wirtschaftliche Chaos gestürzt.

Nach seinem Sturz 1991 gründete Gorbatschow eine Stiftung, schrieb Dutzende Bücher, reiste als hoch bezahlter Redner um die Welt. 1996 trat er bei den russischen Präsidentschaftswahlen an – und ging mit 0,51 Prozent der Stimmen unter. Auch seine wiederholten Versuche, eine sozialdemokratische Partei aufzubauen, scheiterten ein ums andere Mal. Der Kreml erinnerte sich erst 2011 an den Friedensnobelpreisträger, da verlieh ihm der damalige Präsident Dmitri Medwedew einen Orden.

Präsident Wladimir Putin hat eine ganz klare Meinung über Gorbatschow. Vor zwei Jahren erklärte er in einer Fernsehfragestunde auf die Frage, wie er 1991 an dessen Stelle gehandelt hätte: «Nicht den Kopf in den Sand stecken und den Hintern rausschauen lassen, sondern die territoriale Einheit des Staates verteidigen.»

Gorbatschow, der 1985 zum stärksten Mann der Sowjetunion aufgestiegen war und der mit den Begriffen «Perestroika» (Umbau) und «Glasnost» (Offenheit, Transparenz) in die Weltgeschichte einging, wehrt sich bis heute gegen solche Anschuldigungen. Ähnlich wie Putin bedauert er in Interviews den Zerfall der Sowjetunion, gesteht aber lediglich taktische Fehler ein, etwa jenen, dass er Jelzin nicht frühzeitig «fortgeschickt» habe. Dieser war es, der hinter Gorbatschows Rücken die Auflösung der Sowjetunion, ihre Umwandlung in die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) betrieb – und Gorbatschow damit überflüssig machte.

«Eine Politik der Täuschung»

Auch gegenüber dem Westen, der ihn damals wie heute feierte, erhebt Gorbatschow seit Jahren schwere Vorwürfe: Er fühlt sich betrogen, weil die Nato sich entgegen allen Zusagen der damaligen politischen Führer bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt hat – eine Diskussion, die angesichts der Ukrainekrise wieder aktuell geworden ist. «Es gibt ehrliche Politik, und es gibt eine Politik der Täuschung», antwortete er jüngst auf die Frage, ob er betrogen worden sei.

Grund für den Ärger des Russen ist eine mündliche Zusage des damaligen US-Aussenministers Joseph Baker gegenüber Gorbatschow. Das Bündnis werde seinen Einflussbereich «nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen», falls die Sowjets der Nato-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands zustimmten, sagte Baker im Februar 1990 in Moskau.

Gorbatschow sagt jedoch: «Allein die Vorstellung, die Nato würde sich auf Länder dieses Bündnisses ausdehnen, klang damals vollkommen absurd.» Klar ist: Hätte er 1990 gewusst, dass einige Jahre später nicht nur Polen und Tschechien, sondern auch die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum Nato-Mitglieder werden sollten, hätte es keinen Abzug der sowjetischen Truppen, vielleicht auch keine deutsche Wiedervereinigung gegeben.

«Gorbimanie» im Juni 1989

Gorbatschows Position war entscheidend für die Lösung der «deutschen Frage». Eine wichtige Rolle für die unblutige Lösung dieser Frage spielte das von Vertrauen geprägte Verhältnis zwischen dem Kreml-Herrscher und dem westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl sowie das der beiden Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und Eduard Schewardnadse. Die vier entstammten einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hatte. In ihren Treffen beriefen sie sich immer wieder auf die «besondere Verantwortung», die dem deutschen und dem russischen Volk aus der Kriegserfahrung erwachse.

Obwohl es in der Frage der Wiedervereinigung lange keine sichtbaren Fortschritte gab, erhoben die Deutschen Gorbatschow bald zu einer Art Friedensengel. Im Juni 1989 erlebte die «Gorbimanie» ihren Höhepunkt, als der Russe mit seiner Frau Raissa in einer Art Triumphzug durch die Bundesrepublik reiste und in Bonn und Stuttgart bejubelt wurde.

Wie wichtig Gorbatschows Vertrauen zu Kohl war, bewiesen die brenzligen Tage nach dem Mauerfall. Der Sowjetgeheimdienst KGB und die DDR-Führung in Ostberlin versuchten, Gorbatschow mit Schreckensszenarien zu einem Eingreifen zu drängen. Der KGB meldete Gorbatschow nun, Menschenmengen seien dabei, sowjetische Militäreinrichtungen in Berlin zu stürmen. Kohl gab dem Russen per Telefon sein Wort, dass diese Berichte nicht zuträfen. Und der hatte inzwischen so grosses Vertrauen zum Kanzler, dass er dessen Wort über die Berichte seiner Geheimdienstchefs stellte. Die sowjetischen Panzer in der DDR blieben in den Kasernen, und die deutsche Wiedervereinigung nahm ihren Lauf.

In seinen jüngsten Interviews macht Gorbatschow einen verbitterten Eindruck. Er kritisiert die Ausdehnung der Nato und die Einmischung des Westens in «für Russland wichtigen Regionen» wie Ex-Jugoslawien, dem Irak, Georgien und der Ukraine. Die Krim-Annexion im März begrüsste er als «Wiedervereinigung» und sagte: «Das ist ein Moment des Glücks.»

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