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Der Tieflohnkanton hofft und ängstigt sich gleichzeitig

Von einer Annahme der Mindestlohn-Initiative am 18. Mai wäre das Tessin als Tieflohnregion in besonderer Weise betroffen. Entsprechend kontrovers läuft die Debatte.

Südostschweiz
03.04.14 - 02:00 Uhr

Von Gerhard Lob

Locarno. – Für das Tessin hätte eine Annahme der gewerkschaftlichen Mindestlohn-Volksinitiative, über die am 18. Mai abgestimmt wird, weitreichende Konsequenzen. Das ist unbestritten. Denn der Südkanton ist als Tieflohnregion bekannt. Die Lohnstrukturerhebung des Bundes zeigt, dass in keinem anderen Kanton der Anteil an Tieflohnarbeitern höher liegt. Der Tessiner Medianlohn ist der tiefste der ganzen Schweiz. Gemäss Statistik liegt er für alle Branchen und Beschäftigten im Kanton bei 5076 Franken (Stand 2010). In Zürich betrug er im gleichen Jahr 6349 Franken, landesweit 5979 Franken. In der Kategorie «Einfache und repetitive Tätigkeiten» liegt der Tessiner Medianlohn sogar knapp unter den in der Mindestlohn-Initiative geforderten 4000 Franken. Der Medianlohn bedeutet, dass die Hälfte der Beschäftigten weniger und die andere Hälfte mehr verdient.

Gemäss einer Lohnerhebung des Tessiner Statistikamtes beziehen 48 000 Beschäftigte einen Monatslohn von weniger als 4000 Franken. «Das entspricht rund einem Viertel aller Erwerbstätigen», rechnet die Tessiner Finanz- und Wirtschaftsdirektorin Laura Sadis (FDP) vor. Sie bringt Verständnis für den Vorschlag der Gewerkschaften auf, denn mit einem Einkommen von 4000 Franken pro Monat liessen sich immer noch keine grossen Sprünge machen. Aber zugleich verhehlt sie nicht ihre Sorge, dass die Einführung dieser neuen Mindestlöhne für einige Wirtschaftszweige im Tessin schwer verkraftbar wäre. Sie fände es besser, wenn die Festlegung von Mindestlöhnen differenziert nach Branchen und Regionen erfolgen würde. «Wir haben eben eine andere Wirtschaftsstruktur als das Mittelland», sagt sie.

Grenzgänger akzeptieren Tieflöhne

Tatsächlich ist bekannt, dass gerade in Grenznähe viele Betriebe dank Tieflöhnen entstanden sind und existieren. Beispielsweise in der Textilbranche. Dort arbeiten vor allem Grenzgänger. Und diese akzeptieren auch Löhne unter 3000 Franken – schliesslich lässt sich davon in Italien gut leben.

Die im Südtessin angesiedelte Firma Zimmerli, die edle Unterwäsche herstellt, hat bereits damit gedroht, dass sie bei einer Annahme der Initiative die Produktion ins Ausland verlagern müsse. Manche prophezeien, dass das ganze Mendrisiotto zum Stillstand kommen werde, wenn der gesetzliche Mindestlohn von 22 Franken eingeführt wird.

Tiefe Löhne sind auch im Kleingewerbe, in der Hotellerie und in der Gastronomie verbreitet. Und dort sorgt die Aussicht auf den staatlich festgelegten Mindestlohn bei den Arbeitgebern für Panik. So sagte ein Restaurantbesitzer aus Arbedo-Castione dieser Tage an einer Podiumsdiskussion: «Wird die Initiative angenommen, mache ich meinen Laden dicht und entlasse alle fünf Angestellten.» In der Hotelbranche ist davon die Rede, allenfalls von Monatssalären auf Bezahlung nach Stunden umzustellen.

Von solchen Drohungen lassen sich die Gewerkschafter nicht einschüchtern. Sie reden von Angstmacherei. «Es ist doch die Frage, welche Zukunft Betriebe überhaupt noch haben, deren Existenz auf Tieflöhnen fusst», sagt etwa alt CVP-Nationalrat Meinrado Robbiani, Kantonalsekretär der christlichen Gewerkschaft Ocst in Lugano. Die Talfahrt der Textilbranche sei kaum zu bremsen. Er räumt aber ein, dass sich auch die Gewerkschaften angesichts der Abstimmung in einer heiklen Situation befänden. Ihnen könne nicht daran gelegen sein, Arbeitsplätze zu vernichten, und sie müssten auch die Interessen der Grenzgänger wahrnehmen.

«Tessin wird dann noch attraktiver»

In der Tessiner Bevölkerung scheint die Mindestlohn-Initiative viele Sympathien zu geniessen. Denn der Lohndruck nimmt zu, und die Lebenshaltungskosten liegen nicht wesentlich tiefer als in der deutschen Schweiz. Diese Haltung spiegelte sich bereits im Votum vom 9. Februar mit dem klaren Tessiner Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP. Es zeigte auf, dass sich die Tessiner in gewisser Weise vor dem Zustrom italienischer Arbeitskräfte schützen wollen.

FDP-Nationalrat Giovanni Merlini ist indes überzeugt, dass ein Mindestlohn von 4000 Franken den genau entgegengesetzten Effekt haben könnte: «Das Tessin wir dann für Grenzgänger noch attraktiver werden.» Der Druck auf den Markt werde zunehmen. Er lehnt die Initiative entschieden ab und warnt vor einem Bumerang-Effekt. Eine Reihe von Beschäftigten könnte am Ende nicht mit höheren Löhnen nach Hause gehen, sondern schlicht ohne Job auf der Strasse stehen.

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