×

Der Gypsy-Schmelz ist tot – es lebe die neue Jazzgeige

Auf seiner aktuellen Ostschweiz-Tour hat Jazzgeiger Tobias Preisig mit seiner Band im Churer Hotel «Drei Könige» Station gemacht – dem Jazz Club Chur sei Dank.

Südostschweiz
24.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Von Carsten Michels

Chur. – Selbst eingefleischte Jazz-Fans verziehen beim Stichwort Geige oft abschätzig den Mund. Vielleicht liegen ihnen noch immer die Tonleitergirlanden und Schluchzer in den Ohren, mit denen die Nachfolger des legendären Gypsy-Geigers Stephane Grappelli die Geduld des Publikums bisweilen arg strapazierten. Der junge Zürcher Geiger Tobias Preisig hat also nicht unbedingt einen leichten Stand, wenn er mit seiner Violine in den Clubs aufkreuzt – zumindest bis er den ersten Ton gespielt hat. Das dann einsetzende Aha-Erlebnis ist am Mittwochabend auch den Besuchern des Jazz Clubs Chur zuteil geworden, auf dessen Einladung Preisig und seine drei Mitmusiker im Saal des Churer Hotels «Drei Könige» zu Gast waren. Denn siehe da: Um die befürchteten Girlanden und Schluchzer machte der Geiger einen ähnlich grossen Bogen wie ein Geistlicher ums Welschdörfli. Der 29-Jährige gehört zu einer neuen Jazzgeiger-Generation – und zeigt genau deshalb Pioniergeist. Dem Magazin «Jazz 'n' More» erklärte Preisig, er habe von Anfang an seinen Sound selber kreieren müssen. Anders als beim Saxofon oder der Trompete gebe es im Jazzgeigenspiel keine riesige Tradition. «Das Instrument zwingt dich, einen eigenen Weg zu gehen.»

Melodien auf der «Zaubersaite»

Der eigene Weg, von dem Preisig sprach, tat sich am Mittwoch von Beginn an in einem bemerkenswert schnörkellosen Ton kund. Den Auftakt zu «Monolog-Dialog» bestritt der Geiger zunächst allein mit einer erdig-wehmütigen Melodie auf der D-Saite – jener «Zaubersaite», um deren Wirkung der klassisch ausgebildete Preisig nur allzu gut weiss. Durchdacht wirkten auch die grossen Bögen – beispielsweise in «Lakeside» und «Casablanca» -, die überraschenden Tempobrüche wie in «Hardbruck» oder die raffinierten Registerwechsel, von denen das Stück «Flowing Mood» lebt.Berührungsängste zum Pop sind Preisig fremd. Es stört ihn offensichtlich auch nicht, wenn etwa das Thema in «Flowing Mood», so wie er es in Chur vortrug, auffällig an Christian Bruhns populäres «Timm's Theme» aus den Siebzigerjahren erinnert. Ausschlaggebend scheint für ihn weniger das musikalische Ausgangsmaterial zu sein, sondern sein Umgang damit. Und der ist in jedem Moment geprägt von bestechender Virtuosität.Sein Jazz-Club-Publikum hatte Preisig am Mittwoch rasch im Sack. Und dieses erwies sich als überaus kundig. Nicht nur Preisigs Ideen, sondern auch jene seiner inspirierten Mitstreiter quittierten die Zuhörer mit heftigem Applaus – die verspielt-lässigen Einwürfe von Stefan Aeby am Piano; das fulminante Basspiel André Pousaz', dessen Finger mitunter spinnengleich über das Griffbrett huschten; den kernigen, rhythmisch aufreizenden und zuweilen etwas dominanten Schlagzeug-Sound von Michi Stulz. Ohne weitere Abstriche: ein grandioser Start in die neue Jazz-Club-Saison.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Zeitung MEHR