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Curdin Morell: «Wir waren schneller als die DDR»

Als Anschieber des legendären Gustav Weder hat der Prättigauer Curdin Morell im Bobsport Ruhm und Medaillen eingefahren. Dem Sport blieb er nach der Karriere erhalten – beruflich als Turnlehrer, in der Freizeit als Athletiktrainer.

Südostschweiz
28.12.12 - 01:00 Uhr

Von Johannes Kaufmann

Bob. – Curdin Morell will nicht als Besserwisser auftreten und die Mentalität des Früher-war-alles-Besser scheint ihm fremd zu sein. Dafür steht der 49-jährige Prättigauer mit Wohnsitz in Schiers als zweifacher Familienvater mit schmuckem Eigenheim sowie als Turn- und Sportlehrer an der ortsansässigen Evangelischen Mittelschlule (EMS) zu sehr mittten im Leben. Trotzdem spart er nicht mit kritischen Voten zur Lage des Schweizer Bobsports, der seit 2009 auf Edelmetall an grossen Meisterschaften wartet. Dass ein fünfter Rang von Beat Hefti im Viererbob bereits als Erfolg gewertet wird, kann ihm, dem hochdekorierten Anschieber von Gustav Weder der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre nur ein Erstaunen entlocken. Die Zeiten haben sich eben geändert. Das veritable Olympia-Debakel vor zwei Jahren in Whistler/Vancouver hatte Morell als Athletiktrainer von Ivo Rüegg hautnah erlebt. Das Dauergezänk um Rotation der Anschieber sei bestimmt nicht leistungsfördernd gewesen. «Gene- rell ist es heikel, mit Hefti auf nur einen Piloten zu setzen», urteilt Curdin Morell.

Die zahlreich eingefahrenen Medaillen haben einen Ehrenplatz im Haus erhalten. «Meine sportlichen Meriten bedeuten mir viel, es war ein schöner Lebensabschnitt», bilanziert Morell, exakt 20 Jahre nach Beendigung seiner Laufbahn. Er gestaltete sie damals an der Front mit, die grossen Jahre des Schweizer Bobsports. «Als ich 1987 auf dem Schlitten von Silvio Giobellina debütierte, stritten sich neben ihm mit Ekkehard Fasser, Hans Hiltebrand und Ralph Pichler drei weitere Weltmeister ums Olympia-Ticket.»

Die Spiele fanden ohne Morell statt. Doch der mit allen Mitteln geführte interne Wettstreit der stolzen Bobnation Schweiz elektrisierte die Massen. Die nationalen Titelkämpfe seien ein echter Höhepunkt des Jahres gewesen, fürs Prestige fast noch wichtiger als die darauffolgenden grossen internationalen Meisterschaften.

Eigentlich wollte der in Pany grossgewordene Morell nicht Bob-, sondern Skirennfahrer werden. Das lag im Prättigau der Siebziger- und Achtzigerjahre auf der Hand, viel mehr sportliche Optionen existierten im Tal nicht. Er habe durchaus ein gewisses Faible für den Rennsport gehabt, «doch niemals hätte ich es ganz nach oben geschafft». Früh stellte Morell fest, dass er über andere Qualitäten verfügt. Während seines Studiums in Bern mutierte er zum Sprinter, der die noch heute gültige Bündner Rekordzeit über 100 Meter (10,72 Sekunden) aufstellte. Dem realistischen Analytiker war indes nicht entgangen, dass er bloss auf den ersten 50 Metern wirklich konkurrenzfähig war. Eine glückliche Fügung führte ihn zu seiner wahren sportlichen Bestimmung. «Mein Trainer war zugleich Athletik-Coach von Silvio Giobellina. Ich wurde zu einem Versuch als Bob-Anschieber ermutigt.»

«Wir waren die Spiesser»

Als kräftiger Sprinter war Morell prädestiniert für die Position 4 eines Viererbobs. Noch während der Olympiasaison 1988 streckte Gustav Weder seine Fühler nach dem Rohdiamanten aus. Morell besass mit seinem Transfer zum St. Galler Rheintaler den richtigen Riecher, er war beim nun folgenden kometenhaften Aufstieg Weders in höchste Bob-Sphären mit an Bord. Bereits in der ersten Saison reüssierte die frisch zusammengestellte Equipe 1989 an den Titelkämpfen im italienischen Cortina im Viererbob. Ein WM-Titel, der Morell besonders stolz macht. «Nach der Rücktrittswelle 1988 orakelte man übers Ende des Schweizer Bobsports – und ein Jahr später belegten wir an der WM in der Königsklasse die Ränge 1 und 2.» Platz 2 ging aufs Konto des Engadiners Nico Baracchi. Ein echtes Multitalent im Eiskanal, mit Erfolgen auch im Skeleton und auf dem Cresta Run. Nur eines beherrschte Baracchi nicht: als Chef straff ein Team zu führen. Morell schätzte den Engadiner wohl als geselligen Kollegen, entschied sich jedoch mit Grund für Weder. «Er war die seriösere, Erfolg versprechendere Option.»

Der Wettstreit der Musterschüler gegen die fröhlichen Lebemänner war ein grosses Medienthema. «Wir waren die Spiesser in dem Spiel», sagt Morell mit einem Lachen im Gesicht. Bedeutend mehr als der Sieg im internen Wettstreit freut er sich freilich über den Triumph über die hoch eingeschätzten Schlitten aus der damaligen DDR. «Die haben den Sport mit aller Konsequenz betrieben, aber wir waren schneller.»

Frust und Freude in Albertville

Während Baracchi bloss einen Winter an der absoluten Weltspitze tanzte, blieb Team Weder tonangebend im Eiskanal. 1990 folgte in St. Moritz der viel umjubelte WM-Heimsieg mit dem grossen Schlitten. Ein Jahr später schob Morell seinen Chef in Altenberg (Deutschland) sowohl mit dem Zweier- als auch mit dem Viererbob zur WM-Silbermedaille. Die Krönung sollte 1992 an den Olympischen Spielen in Albertville folgen. Das hochleistungsortientierte Bob-Unternehmen wollte den Vierjahresturnus mit dem Gewinn der goldenen Auszeichnung im Vierer krönen. Das ging schief. Es blieb Bronze. «Eine Enttäuschung», gesteht Morell. Mittlerweile ist er uneingeschränkt stolz über die eingefahrenen olympischen Meriten. Noch heute erhält er Fanpost aus aller Welt. «Und dies ist nicht auf die WM-Titel, sondern auf die immense Strahlkraft Olympischer Spiele zurückzuführen», ist er überzeugt. Morell ist nicht zuletzt deshalb ein eifriger Verfechter der Bündner Bemühungen, die Spiele 2022 in den Kanton zu lotsen. Er schwärmt vom Stolz aller Beteiligten rund um den Mega-Anlass und vom unbezahlbaren Impulsprogramm für die Region. «Wir wären bescheuert, wenn wir diese Chance nicht nutzen würden.»

Morell verfolgt den Bobsport mit ein bisschen Abstand. Mit Ivo Rüeggs Karrierenende vor zwei Jahren endete auch Morells Tätigkeit. Bei den Athletik Juniors in Landquart trainiert er jedoch weiterhin den Mehrkampf-Nachwuchs im Sprint. Darunter befindet sich auch Tochter Mara (18), der ein gewisses Talent attestiert wird. Als Turn- und Sportlehrer stellt er derweil fest, dass auch im Prättigau allmählich städtische Entwicklungen Einzug halten. «Die Grundkondition der Schüler hat in den letzten Jahren rapide abgenommen», sagt einer, der es wissen muss. Den Umgang mit der Jugend schätzt er nichtsdestotrotz sehr. «Das hält mich jung – auch wenn der Abstand zwischen mir und den Schülern zwangsläufig stets grösser wird.» Und auch vom Bobsport ist er so ganz nicht weg. Mit Luca Schumacher erteilt er einem jungen Grüscher Nachwuchspiloten Sprint-Training. Ein loser Bezug zum Bobsport bleibt dem Anschieber, der aus Kostengründen nie eine Piloten-Laufbahn ins Visier nahm, erhalten.

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