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«17 Prozent mehr Billette verkauft»

Die Rhätische Bahn (RhB) konnte in diesem Jahr dank des Jubiläums auf der Berninastrecke Mehrumsatz verbuchen, sagt RhB-Direktor Erwin Rutishauser. Sorgen bereitet ihm aber das fehlende Geld für die Substanzerhaltung der Bahn.

Südostschweiz
25.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Mit Erwin Rutishauser sprach Reto Furter

Herr Rutishauser, die RhB feierte ein halbes Jahr lang Jubiläum – 100 Jahre Berninalinie. So viel Werbung gab es für die Rhätische Bahn wohl seit ihrer Gründung noch nie.

Erwin Rutishauser: Wahrscheinlich nicht, nein. Das Echo innerhalb der Bevölkerung, innerhalb des Tourismus, aber auch innerhalb der Medien hat meine Erwartungen ganz klar übertroffen.

Wie sieht denn Ihre Bilanz aus in Sachen Medienpräsenz?

Ausgewertet haben wir erst die Schweizer Medien, hier haben wir genaue Zahlen: Wir waren bis heute über 60-mal Thema im Fernsehen oder Radio, über 200-mal wurde online über uns berichtet, es gab über 500 Printberichte. Zusammengezählt wurden wir in beinahe 20 Millionen Printauflagen erwähnt. Das betrifft allein die Schweiz. Diese grosse nationale, aber auch weltweite Resonanz, das ist beeindruckend und hat eine positive Ausstrahlung für den ganzen Tourismuskanton Graubünden.

«Zugelegt in Süd-Nord-Richtung»

Sie feierten nicht nur das 100-Jahr-Jubiläum, sondern auch das Unesco-Label für die Albula- und Berninastrecke. Man scheint die RhB als etwas Spezielles anzuschauen.

Die Kombination von Berninajubiläum und dem Unesco-Label war für uns aussergewöhnlich – wir sehen das auch anhand der Frequenz- und Umsatzzahlen. Am meisten Zuwachs haben wir in diesem Jahr klar auf der Albula- und der Berninalinie.

Auch die Bündner Südtäler und das Albulatal profitierten touristisch vom Jubiläum, wie die aktuellen Zahlen von Graubünden Ferien zeigen.

Kein Wunder! Auf der Berninastrecke konnten wir bis Juli 17 Prozent mehr Billette verkaufen – zugelegt haben wir vor allem in der Süd-Nord-Richtung, also vom italienischen Tirano her. Das ist erstens eine neue Tendenz und zweitens beachtlich, wenn man den schwachen Euro-Kurs berücksichtigt. Offensichtlich findet unser Produkt bei den italienischen Gästen so viel Anklang, dass sie auch bei einem für sie ungünstigen Euro-Kurs mit der Berninabahn fahren wollen.

Die Schweiz und Graubünden ein Eisenbahnland – und doch kämpfen Sie um Geld. Die Infrastruktur der RhB droht ohne zusätzliche Mittel zu verlottern.

Verlottern ist übertrieben. Wir sind jedoch gefordert, die finanziellen Mittel zu beschaffen, damit wir unsere 384 Kilometer lange Gebirgsbahn mit den vielen Tunnels und Brücken nachhaltig erhalten können.

Wie viel Geld fehlt Ihnen konkret?

Die nationalen Räte haben darüber noch nicht abschliessend beraten, die zuständige Kommission des Ständerates hat jedenfalls beantragt, die Finanzmittel für die Konzessionierten Transportunternehmen, also unter anderem für die RhB, um 60 Millionen Franken zu erhöhen. Wenn wir unsere Substanz nachhaltig erhalten wollen, brauchen wir jährlich zwischen 130 und 140 Millionen Franken, ohne Nachholbedarf von jährlich 20 Millionen Franken. Laut aktuellen Vorgaben erhalten wir im nächsten Jahr 115 bis 117 Millionen Franken.

15 Prozent zu wenig.

Kurzfristig könnten wir damit leben, aber wir schieben die Welle der nötigen Substanzerhaltung vor uns her, und sie wird immer grösser. Zudem steigen die Kosten für den Unterhalt massiv. Das holt uns irgendwann ein, deshalb kämpfen wir. Unsere Argumentation wird im Übrigen vom Bundesamt für Verkehr nicht bezweifelt.

Aber Sie kommen zur falschen Zeit mit Forderungen nach mehr Geld.

Das Geld, das zur Verfügung steht, ist endlich. Der Bund muss Prioritäten setzen.

Wie viele Jahre lang kann denn die RhB die Welle der Substanzerhaltung vor sich herschieben, bis sie einst bricht?

Unser Netz ist sicher, das ist entscheidend. Wenn wir nicht über genügend Mittel verfügen für eine nachhaltige Substanzerhaltung, dann machen wir halt eine «Pflästerlipolitik». Wir investieren notfallmässig dort etwas, hier etwas, halt immer dort, wo es gerade brennt. In der Summe kostet das natürlich wesentlich mehr, als wenn wir den Unterhalt nachhaltig und gezielt betreiben könnten. Wenn diese Situation zu lange andauert, führt das irgendwann zu Stellen, an denen man nur noch langsam fahren darf, es führt zu Streckenunterbrüchen, Verspätungen. Das letzte Szenario sind Streckenschliessungen. Nicht von heute auf morgen, sondern mittel- bis langfristig.

Mittel- bis langfristig droht mit anderen Worten der Zerfall des Unesco-Kulturgutes RhB?

Dies täte weh. Wir müssten uns in so einem Fall überlegen, welche Teile des RhB-Netzes Priorität hätten. Aus Marktsicht und aus übergeordneter Sicht für das Funktionieren des Kantons Graubünden sollte man aber das gesamte Streckennetz der RhB aufrechterhalten. Wir investieren entsprechend dort, wo der grösste Nachholbedarf besteht.

Es gibt keine Strecken, die sie präventiv ausbluten lassen?

Nein, das entspricht nicht der heutigen Strategie.

Teuer, richtig teuer, wird dann der geplante Neubau des Albulatunnels.

Das ist richtig, aber die Frage richtet sich primär an Kanton und Bund, wie sie die Finanzierung für den Bau der Infrastruktur am Albulatunnel bereitstellen wollen.

«Dann machen wir halt eine 'Pflästerlipolitik'»

Sie brauchen nicht nur die 140 Millionen Franken plus Nachholbedarf von 20 Millionen Franken jährlich, sondern sie brauchen auch noch 260 Millionen Franken für den Tunnel.

Wir haben mit Bund und Kanton vereinbart, dass wir mit der Planung für den Neubau beginnen und die Unterlagen für die Plangenehmigung erarbeiten. In den nächsten vier Jahren werden wir so weit sein, dass mit dem Bau begonnen werden kann. Ab 2014 oder 2015 muss also die Finanzierung für den Neubau sichergestellt sein.

Weitere Ausbaupläne? Die Rede ist immer wieder einmal von einer Verbindung ins Münstertal oder zwischen Langwies und Davos.

Das hängt vom Zeithorizont ab. In den nächsten fünf bis zehn Jahren liegt der Fokus von RhB und Kanton auf der Einführung des Halbstundentaktes ins Oberengadin, nach Davos, nach Ilanz und – in saisonalen Hauptverkehrszeiten – nach Arosa. Dafür braucht es gewisse Ausbauten, so genannte Doppelspurinseln. Wenn man zusätzlich die Fahrt zwischen Zürich und Davos um 20 Minuten verkürzen will, brauchen wir den Wolfgangtunnel. Das sind die Prioritäten in Sachen Netzausbau. Ob der Markt in 20 Jahren oder später bereit sein wird, Tunnelverbindungen nach Mals in Italien, zwischen Langwies und Davos oder zwischen Sedrun und Andermatt zu finanzieren, wird sich erweisen. Es ist richtig, dass man sich heute Gedanken über die mögliche Machbarkeit solcher Projekte macht, aber einen Spatenstich werden wir in den nächsten zehn Jahren kaum erleben.

Wer mit dem Auto im Winter durch den Vereina will, wartet gelegentlich stundenlang. Das ist nicht optimal, denn die betroffenen Automobilisten fahren das nächste Mal vermutlich durch den Arlbergtunnel in Österreich. Das ist schneller und auch nicht teurer.

Wartezeiten sind immer unangenehm. Jährlich betrachtet haben wir aber lediglich an 15 Tagen Wartezeiten von mehr als 30 Minuten am Vereinatunnel. Längere Wartezeiten beschränken sich somit auf gewisse Wochenenden und auf Wintereinbrüche am Flüela- und Julierpass.

Sie verärgern Touristen, denn die betrifft es hauptsächlich. Einheimische wissen, wann sie den Vereina meiden müssen.

Wir müssen uns betriebswirtschaftlich fragen, ob wir mit einer zusätzlichen Zugskomposition am Vereina das Ergebnis verbessern können. Und das gelingt uns leider nicht. Am Gotthard-Strassentunnel warten Sie in Hauptverkehrszeiten und an Feiertagen auch stundenlang.

Entsprechend laut sind auch die Rufe nach einem Ausbau. Und bei Ihnen? Ein Vereina-Ausbau ist nicht geplant? Abgesehen davon, dass Sie einfach die Warteräume vergrössern lassen?

Es geht auch bei uns schlicht um eine Prioritätensetzung beim Einsatz der Finanzmittel. Betriebswirtschaftlich betrachtet macht eine vierte Zugskomposition am Vereina keinen Sinn, weil wir sie nur wenige Tage im Jahr benötigen würden. Wir wollen aber die Gäste möglichst gut auf bekannte Stauwochenenden vorbereiten. Hoteliers im Unterengadin schicken ihren Gästen Informationen zu, wann Staus am Vereina zu erwarten sind. Die heutige Ausfahrspur wird in Spitzentagen als Stauraum zur Verfügung gestellt. Wir erwarten, dass noch im Oktober die entsprechenden Arbeiten begonnen werden können.

Wurde beim Bau des Vereinatunnels zu defensiv gerechnet, dass man nach zehn Jahren schon stundenlange Staus hat?

Wir wurden überrannt, und das ist natürlich eine grosse Erfolgsgeschichte. Wir haben vor zehn Jahren nicht damit gerechnet, dass die Auslastung jetzt so hoch sein würde. Man muss aber auch sehen, dass man für den Bau nur eine begrenzte Summe Geld zur Verfügung hatte. Damit hat man das Beste gemacht.

«Wir wurden überrannt»

Seit 2004 sind Sie Direktor der RhB – und noch bis Ende Jahr. Sie feiern Abschied auf dem Höhepunkt, genau so, wie man es halt machen sollte.

Ich habe schon immer von Zeit zu Zeit Standortbestimmungen gemacht – und das habe ich mit meiner Frau auch jetzt wieder gemacht. Gemeinsam kamen wir zur Überzeugung, dass der Rücktritt auf Ende dieses Jahres zum richtigen Zeitpunkt kommt, sowohl für die RhB wie auch für mich persönlich. Ich habe ein gewisses Alter, aber ich fühle mich gesund und motiviert, noch etwas Neues anzupacken.

Was planen Sie? Werden Sie selbstständiger Berater der RhB?

Ich werde mein Wissen und meine Erfahrung anderen Unternehmen im Sinne einer Beratung anbieten, aber nicht der RhB.

Ihr Nachfolger, Hans Amacker, darf zuerst aufräumen, was vom Fest übrig bleibt – und dann sparen und beim Bund und Kanton um Geld fragen.

Die Feierlichkeiten werden wir abschliessen, da wird es nichts aufzuräumen geben. Ich hoffe, dass er von den Früchten ernten kann, die wir gesät haben. Finanzielle Herausforderungen stehen an, das ist richtig, aber das hat jeder Direktor bei jedem Unternehmen zu jeder Zeit. Herrn Amacker wird es sicher nicht langweilig werden.

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