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Vielfalt der alpinen Pflanzenwelt ging in Eiszeiten nicht zurück

Forschende haben die Entwicklung der Pflanzenvielfalt der Alpen rekonstruiert. Wie sie im Fachmagazin «Nature Communications» berichten, blieb die Artbildungsrate bei alpinen Pflanzen über Jahrmillionen relativ konstant, sogar während den letzten Eiszeiten.

Agentur
sda
18.05.22 - 11:24 Uhr
Wirtschaft

Die alpine Pflanzenwelt ist aussergewöhnlich artenreich. Viele Arten sind endemisch und perfekt an die garstigen Bedingungen der Bergwelt angepasst. Seit hunderten von Jahren rätseln Forschende, wie und wann die Pflanzenwelt im Alpenraum ihre biologische Vielfalt erlangte.

Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des Ökologen Niklaus Zimmermann von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) gibt nun einen «noch nie dagewesenen Einblick in die Geschichte der Diversifizierung» der alpinen Gebirgsflora, wie es in der am Mittwoch veröffentlichten Studie heisst.

Entgegen bisherigen Vermutungen führten die wechselnden Kalt- und Warmzeiten des Pleistozäns, das vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann und vor 12’000 Jahren endete, nicht zu einer starken Verlangsamung der Diversifizierung. Vielmehr begannen die Gebirgspflanzen während diesen Klimaveränderungen neue Nischen zu erobern, wodurch sie neue Arten bildeten. Dies habe Aussterbeereignissen in hohen Lagen während den Kaltzeiten entgegen gespielt, so die Forschenden.

Verschiedene Triebkräfte

Die an die Kälte angepasste Gebirgsflora, die heute in den Alpen heimisch ist, hat ihren Ursprung im Himalaya-Gebirge. Von dort breiteten sich die Pflanzen in die Gebirge der Welt aus und diversifizierten sich.

Die Diversifizierung der Hochgebirgspflanzen wurde dabei laut der Studie nicht durch einzelne geologische oder klimatische Einflüsse angetrieben, sondern bei der Artbildung spielten drei Faktoren eine entscheidende Rolle: geographische Barrieren, die die Pflanzen genügend lange isolierten, Wanderungen in tiefere oder höhere Lagen, wohl ausgelöst durch Klimaschwankungen, sowie die Besiedlung unterschiedlicher Gesteinsarten mit anschliessender Artbildung.

Insbesondere letzteres habe eine wichtigere Rolle gespielt als bislang vermutet, sagte Zimmermann im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. So seien viele Pflanzen während der Artbildung von silikathaltigem Gestein auf kalkhaltiges gewandert und umgekehrt. Allerdings gab es netto mehr Verschiebungen von Silikat auf Kalk, was mit Beobachtungen übereinstimme, wonach die kalkhaltige Gebirgsflora tendenziell artenreicher sei als diejenige, die Silikat-Gesteine besiedle. Der Grund hierfür sei nicht abschliessend geklärt, sagte der WSL-Forscher.

Bergspezialisten unter Druck

In den vergangenen Jahrmillionen wechselten sich Aussterbeprozesse und Neubildungen von Arten immer wieder ab. Eine im Jahr 2018 veröffentlichte Studie im Fachmagazin «Nature» zeigte, dass die Artenvielfalt auf Berggipfeln in ganz Europa im Zuge der derzeitigen Klimaerwärmung ansteigt, und dass dies immer schneller geschieht. So wachsen heute auf Berggipfeln deutlich mehr Pflanzenarten als noch vor 100 Jahren. Denn wärmeliebenden Arten aus tieferen Lagen gelingt es immer mehr, in höhere Regionen vorzudringen, in denen sie früher nicht überleben konnten.

Damit einher geht allerdings die Gefahr, dass die angestammten Gipfelbewohner verdrängt werden und aussterben. Denn: «Kurzfristig werden sich die kälteliebenden Arten nicht an die neuen Bedingungen anpassen können, dafür brauchen sie tausende bis Millionen von Jahren», sagte Zimmermann. Aber langfristig sei es durchaus möglich, dass sich neue Arten bilden würden.

Allerdings verlaufe die momentane Erwärmung im Vergleich zur Erdgeschichte enorm rasch, was den Aussterbeprozess verschärfen und daher mehr freie Nischen öffnen dürfte. Diese unbesetzten Nischen durch die sehr langsamen Evolutionsprozesse wieder zu besiedeln, dürfte länger dauern, so Zimmermann.

https://doi.org/10.1038/s41467-022-30394-5

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