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Hochgiftiges Starrkrampftoxin lindert Muskelschwund

Vermutet wurde es schon lange, nun haben es deutsche Forscher bestätigt: Tetanustoxin, das Wundstarrkrampf auslöst, lindert Muskelschwund. Nachgewiesen wurde das in einer Doppelblindstudie an Hunden, die nach einem Bandscheibenvorfall gelähmt waren.

Agentur
sda
09.11.21 - 07:27 Uhr
Wirtschaft
Hoffnung für Menschen mit Muskelschwund: Tetanustoxin, das Wundstarrkrampf auslöst, hat sich im Hundeexperiment als wirksam erwiesen beim Muskelaufbau (Symbolbild).
Hoffnung für Menschen mit Muskelschwund: Tetanustoxin, das Wundstarrkrampf auslöst, hat sich im Hundeexperiment als wirksam erwiesen beim Muskelaufbau (Symbolbild).
Keystone/PETER KLAUNZER

Bisher gab es für eine Behandlung von Muskelschwund - beispielsweise nach einem Schlaganfall, bei Multipler Sklerose oder nach Rückenmarksverletzungen - kein wirksames Medikament. Zur Behandlung blieb nur Physio- und Ergotherapie. Göttinger und Berliner Forschende um den Neurologen Prof. Dr. David Liebetanz, von der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), suchten seit etwa zehn Jahren nach einer medikamentösen Therapie.

Nun konnten sie erstmals nachweisen, dass Tetanustoxin den Muskelschwund bei Querschnittlähmung deutlich mindern kann. Ihre Studie wurde im Fachmagazin «Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle» veröffentlicht.

Die Grundannahme geht auf den 2. Weltkrieg und den moldawischen Neurologen Boris Sharapov zurück. Er berichtete von drei durch Schussverletzungen gelähmten Soldaten, die wegen einer zufällig gleichzeitig aufgetretenen Tetanusinfektion eine Besserung der Beweglichkeit erfuhren. Nachdem sie starke Muskelkrämpfe aufgrund von Tetanusgiften durchgemacht hatten, nahm ihre Muskelspannung zu und sie konnten zuvor gelähmte Gliedmassen wieder bewegen. Ein vorher halbseitig Gelähmter erlangte sogar wieder die volle Beweglichkeit zurück.

Sharapov schloss daraus, dass das Tetanustoxin die noch erhaltenen Nervenzellen positiv stimuliert haben muss. In seinem Bericht von 1946 postulierte er eine mögliche therapeutische Verwendung des Tetanustoxins.

Für Menschen noch zu früh

"Heute wissen wir, dass Tetanustoxin, wenn wir es in den Muskel injizieren, hemmende Nervenzellen auf Rückenmarksebene ausschaltet. Dadurch werden motorische Nervenzellen wieder aktiviert, die die betroffene Muskulatur direkt ansteuern. Auf Grundlage dieser einzigartigen Wirkungsweise lässt sich eine Zunahme der Muskelmasse von zuvor gelähmter Muskulatur erzielen“, sagt Dr. Anna Kutschenko, eine der Erst-Autorinnen der Publikation.

Bei den für das Experiment beigezogenen Hunden wurde unter anderem die Muskeldicke gemessen. Bei denjenigen Tieren, welche das Tetanustoxin in den Muskel injiziert bekamen, verdickte sich der Muskel innert vier Wochen. Bei den mit Placebos behandelten Hunden war das nicht der Fall.

«Es ist das erste Mal überhaupt, dass mit einer medikamentösen Behandlung ein Muskelaufbau bei gelähmten Muskeln erzielt werden konnte», sagt Projektleiter und Senior-Autor Liebetanz. «Obwohl Tetanustoxin eine hohe Ähnlichkeit mit Botulinumtoxin aufweist, wirkt es genau gegenteilig. Während Botulinumtoxin zu Lähmung und Muskelatrophie führt, bewirkt Tetanustoxin eine Zunahme des Muskeltonus und der Muskelmasse».

Bevor das Mittel an Menschen getestet wird, wollen die Teams aus Göttingen und Berlin noch einige Untersuchungen durchführen, um die Dosierung zu ermitteln und die Sicherheit zu überprüfen.

*Fachpublikationslink doi: 10.1002/jcsm.12836

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