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«Schweiz ohne Bobsport ist undenkbar»

Der Schweizer Bobsport steht ohne einen Piloten mit Weltcup-Erfahrung da und damit an einem Tiefpunkt. Es ist aber auch eine Chance auf einen Neuanfang - wenn die Weichen richtig gestellt werden.

Agentur
sda
05.12.18 - 13:45 Uhr
Schneesport

«Am Anfang war es schon fast ein Schock», gibt Michael Vogt zu. Michael wer? Der erst 20-jährige Schwyzer kommt am Samstag im lettischen Sigulda zu seinem Debüt im Weltcup. Er ist damit die Nummer 1 der Schweiz - und das sagt einiges aus über die einst stolze Bobnation.

Beim Saison-Kickoff Anfang Oktober in Hinwil gehörten die bekanntesten Gesichter nicht Athleten, sondern längst zurückgetretenen Grössen wie Christoph Langen oder Ivo Rüegg. Vorbei sind die Zeiten, da ein Jean Wicki, ein Erich Schärer, ein Gusti Weder oder ein Beat Hefti zu den prominentesten Sportlern der Schweiz gehörten und von unzähligen Titelseiten blickten. Einzig die Skifahrer haben mehr Olympiamedaillen geholt als die Helden im Eiskanal (10 Gold, 10 Silber, 11 Bronze).

Tempi passati! Nach den Rücktritten der Olympia-, WM- und/oder EM-Medaillengewinner Beat Hefti, Rico Peter und Clemens Bracher am Ende der letzten Saison zählt das Schweizer Kader keinen einzigen Piloten mehr mit Weltcup-Erfahrung. Man bezahlt einen hohen Preis für die Entwicklung in den letzten Jahren. Die Hoffnung auf Besserung trägt einen prominenten Namen: Christoph Langen.

Misswirtschaft der letzten zehn Jahre

Der zweifache Olympiasieger und achtfache Weltmeister ist seit zwei Jahren für den Schweizer Nachwuchs verantwortlich und nimmt kein Blatt vor den Mund. «Die aktuelle Situation ist die Folge der Misswirtschaft der letzten zehn Jahre», sagt der 56-jährige Oberbayer. «Man hat sich auf die Topteams konzentriert, damit diese die Medaillen holen. Den Nachwuchs wollte man nicht fördern.» Vor allem Hefti, in geringerem Ausmass auch Peter und Bracher überdeckten eine Weile die Misere bei den Jungen. Auch sie konnten aber in Pyeongchang die erst dritten medaillenlosen Spiele seit dem Zweiten Weltkrieg (nach 1964 und 2010) nicht verhindern. Nun sind Langen und die aktuelle Verbandsspitze mit Hochdruck daran, die Voraussetzungen für eine erfolgreichere Zukunft zu schaffen. «Seit zwei Jahren versuchen wir mit grossem finanziellem und zeitlichem Aufwand, ein starkes Juniorenteam wieder an die Weltspitze heranzuführen.»

Piloten müssen athletisch top sein

Eine Voraussetzung, um Erfolg zu haben: Auch die Piloten müssen athletisch top sein. Gerade Rico Peter litt darunter, dass er zwar in der Bahn absolute Weltklasse war, am Start aber mit den Besten nicht mithalten konnte. Unter anderem deshalb wurde versucht, starke Anschieber als Piloten zu gewinnen. Mit Erfolg: Nach der letzten Saison wechselten mit Simon Friedli, Michael Kuonen und Yann Moulinier gleich drei von ihnen an die Lenkseile. «Das athletische Potenzial am Start hängt zu 90 Prozent vom Piloten ab», betont Langen. «Das sieht man auch weltweit.» Er ist überzeugt, dass die jungen Schweizer Piloten athletisch in der Lage sind, mit der Weltspitze mitzuhalten. «Fahrerisch können wir über viele Trainings sehr viel erreichen», ist der ehrgeizige Deutsche überzeugt. Die Kehrseite der vielen Anschieber, die eine Karriere als Pilot anstreben: Es müssen wieder neue konkurrenzfähige Anschieber gefunden werden. Das war einer der Gründe für den Rücktritt Brachers, der seinen stärksten Mann Kuonen verlor.

Dass Michael Vogt nun nach nur acht Europacuprennen (zwei Top-10-Plätze) in den Weltcup wechseln muss, sieht Langen mit einer gewissen Sorge. «Es ist etwas schade, dass er so schnell ins kalte Wasser geworfen wird.» Grundsätzlich sei der Neuanfang aber auch eine Chance für den Bobsport in der Schweiz. Vogt, der in den letzten Jahren intensiv mit Langen gearbeitet hatte, sieht es mittlerweile positiv. «Nach allen Absprachen kann ich sagen: Es ist eine coole Möglichkeit und eine grosse Herausforderung.» Der ehemalige Turner und Steinstösser wird zunächst kleinere Brötchen backen müssen. Die Qualifikation für den zweiten Durchgang der besten 20 ist zunächst mal das Ziel. Bei Olympia 2022 in Peking möchte Langen dann mit je drei Teams bei Männern und Frauen am Start sein.

Der Fokus liegt also nicht mehr auf dem kurzfristigen Erfolg. Geht die Strategie auf, werden jetzt, am absoluten Tiefpunkt, die Grundlagen für eine rosigere Zukunft gelegt. Das Eis ist allerdings dünn. Ob Vogt, Friedli, Kuonen oder Moulinier bereits 2022 um Medaillen kämpfen können, ist alles andere als sicher. Ohne Edelmetall droht jedoch der Sturz in die Bedeutungslosigkeit - gerade in der Öffentlichkeit und bei den Sponsoren. Ein Szenario, an das Christoph Langen nicht denken will. «Die Schweiz ohne Bobsport ist undenkbar», sagt der Deutsche.

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