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Die Schweizer Turner und die Diskrepanz zwischen Männern und Frauen

Während die Schweizer Kunstturner am Samstagabend um den Einzug in den Teamfinal kämpfen, ist Lena Bickel die einzige Schweizer Turnerin in Paris. Wie ist die Diskrepanz zu erklären?

Agentur
sda
27.07.24 - 05:00 Uhr
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Einzige Schweizer Kunstturnerin in Paris: Lena Bickel ist an den Olympischen Spielen 2024 eine Einzelkämpferin
Einzige Schweizer Kunstturnerin in Paris: Lena Bickel ist an den Olympischen Spielen 2024 eine Einzelkämpferin
KEYSTONE/URS FLUEELER

«Es ist etwas komisch, ich bin sehr oft allein», sagt Lena Bickel gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Damit beschreibt die 19-jährige Tessinerin ihre Situation als einzige Schweizer Kunstturnerin an den Olympischen Spielen in Paris. Der Traum, als Team dabei zu sein, platzte schon mit dem 17. Rang an der EM im April 2023 in Antalya.

Ganz anders präsentiert sich die Situation bei den Männern. Obwohl mit Oliver Hegi, Pablo Brägger sowie Eddy Yusof drei Aushängeschilder aufhörten und der zweifache Olympia-Teilnehmer Benjamin Gischard verletzt ist, qualifizierten sie sich souverän für den Team-Wettbewerb in der französischen Hauptstadt. Das selektionierte Quintett besteht aus fünf Olympia-Neulingen mit einem Durchschnittsalter von 23 Jahren. Christian Baumann, 2016 in Rio de Janeiro und 2021 in Tokio dabei, schaffte trotz einer guten EM den Cut nicht. Das unterstreicht die grosse Breite bei den Schweizer Männern, die realistische Chancen besitzen, nach dem 6. Rang in Tokio erneut den Teamfinal zu erreichen.

Nicht hilfreiche Unruhen

Wie ist die Diskrepanz zu den Frauen zu erklären, umso mehr, als es mit Ariella Käslin und Giulia Steingruber sehr erfolgreiche Vorbilder gab? «Die Männer haben schon länger ein gut funktionierendes System», erklärt Bickel, welche die Jüngste in der Delegation von Swiss Olympic ist. Zudem hätten all die Probleme, die sie gehabt hätten, nicht geholfen. Damit spricht sie die Unruhen wegen Missbräuchen an. Im Juni 2023 schrieben Turnerinnen in einem Brief an den Verband von «fatalen Missständen im Trainerteam».

David Huser, der Chef Spitzensport im Schweizerischen Turnverband, betont, als er auf die Diskrepanz angesprochen wird: «Es ist nicht so, dass bei den Männern flächendeckend über die Schweiz eine Breite vorhanden ist. Insofern ist es bei den Männern nicht komplett anders als bei den Frauen.» Das unterstreicht das Aufgebot: Vier der fünf Schweizer Turner stammen aus dem Kanton Aargau, der über ein hervorragendes Leistungszentrum verfügt. Luca Giubellini lobt explizit den dortigen Headcoach Nikolaj Maslennikow und sagt, dass in der Ausbildung sehr viel richtig gemacht werde.

Labeling-Prozess initiiert

Die Qualität der Stützpunkte anzuheben, ist ein Punkt, den sich der Verband auf die Fahne geschrieben hat. So initiierte er Anfang Jahr einen Labeling-Prozess mit vier Hauptmodulen: Ethik und Integrität, Management, sportliche Entwicklung sowie Umfeld. «Wir bekamen über 1000 Dokumente von 25 Stützpunkten, die wir nun prüfen», sagt Huser. In der Folge erhalten diese ein Gold-, Silber- oder Bronze-Label und dementsprechend mehr oder weniger Geld. «Wir erhoffen uns, dass wir in den vier Säulen massgeblich einwirken können, um flächendeckend besser zu werden», so Huser und betont: «Es soll ein Zusammenarbeiten sein.»

U18 als Übergangskader

Ein Punkt, bei dem die Männer den Frauen voraus sind, ist die Kaderstruktur. Diese wurde bei den Frauen nun angepasst. Dort gibt es mit der U18 neu ein Übergangskader, um den Athletinnen in jener Phase, in der körperlich und mental viele Veränderungen vonstattengehen, mehr Zeit zu geben. Der Wechsel ins Verbandszentrum in Magglingen erfolgt nun frühestens mit 18 Jahren - das ist auch bei den Männern so. Lena Bickel beispielsweise ging bereits mit 14 Jahren nach Magglingen. «Ich bin der Überzeugung, dass das zu nachhaltigerem Erfolg führt», sagt Huser. Auch weil das einen längeren Verbleib im gewohnten Umfeld ermöglicht.

Ein weiterer zentraler Punkt ist für Huser, mehr Schweizer Trainerinnen ins System zu bringen, diesen Job für ehemalige Turnerinnen attraktiver zu machen. «Was das betrifft, fingen wir bei den Männern früher an, weil es aufgrund des späteren Karriereendes auch einfacher war», sagt Huser. Nun werden die Bemühungen bei den Frauen erhöht. Helfen soll auch, dass mit Bickel, Anny Wu und Caterina Cereghetti erstmals drei Turnerinnen die Spitzensport-RS absolvieren dürfen.

Ziel Brisbane 2032

«All das soll dazu beitragen, das Niveau bei den Frauen zu erhöhen, und zwar nachhaltig», führt Huser gegenüber Keystone-SDA aus. Denn das Potenzial sei riesig, es würden viele Mädchen den Sport ausüben. «Ich bin überzeugt, dass wir mit dem eingeschlagenen Weg bald auf einem konkurrenzfähigen Niveau sind.» So soll spätestens an den Olympischen Spielen 2032 in Brisbane wieder ein Frauenteam im Kunstturnen dabei sein.

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