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Der etwas andere Olympia-Rückblick

Olympische Spiele. Das sind Geschichten von Siegern und Verlierern, von erfüllten Träumen und geplatzten Hoffnungen. Die Spiele liefern Anekdoten, die für jedes Drehbuch zu kitschig wären.

Agentur
sda
13.07.21 - 05:55 Uhr
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Abebe Bikila legte 1960 den Marathon in Rom barfuss zurück
Abebe Bikila legte 1960 den Marathon in Rom barfuss zurück
KEYSTONE/STR

Die seltsamsten Episoden stammen aus der Antike. Eine davon ist jene von Kaiser Nero, der in den ersten Jahren unserer Zeitrechnung Olympiasieger werden wollte und sich zum Sieger des Wagenrennens erklären liess, obwohl er vom Wagen gefallen war.

Auch in jüngerer Zeit ereignete sich Merkwürdiges. 1960 zeichnete das IOC einen Dänen aus, der sich zu Tode gedopt hatte. Knud Enemark Jensen brach während des 100-km-Rennens zusammen und verstarb. Das OK der Spiele in Rom verlieh ihm eine Goldmedaille. In der damaligen Zeit galt Doping noch als Kavaliersdelikt.

Solche Trouvaillen gibt die Geschichte der Olympischen Spiele immer wieder her.

1896 in Athen

... wurde Spyridon Louis Sieger im Lauf von Marathon nach Athen. Er profitierte davon, dass Albin Lermusiaux, der nach 20 km an der Spitze lag, und Edwin Flack, der bis kurz vor Schluss führte, aufgeben mussten, weil sie während des Rennens ausschliesslich Alkohol tranken.

1900 in Paris

... wurde John Arthur Jarvis, von Beruf Bäcker, zu einem der dicksten Olympiasieger aller Zeiten. Jarvis war Dauerschwimmer und seiner Zeit voraus. Er beherrschte das sogenannte «Hand-über-Hand-Schwimmen», den Vorläufer des Crawl-Stils. Jarvis gewann über 1000 und 4000 m, wobei der Vorsprung 1:13,4 respektive 10:31,4 Minuten betrug.

1904 in St. Louis

... wurde George Lyon Golf-Olympiasieger. Vor den Abschlägen entspannte er sich mit Handständen; die Konkurrenz irritierte er, indem er Lieder sang und Witze erzählte. Zur Siegerehrung ging Lyon auf Händen. 1908 reiste Lyon vergebens über den Atlantik zu den Spielen nach London. Er hatte nicht mitbekommen, dass Golf aus dem Programm gekippt worden war.

1908 in London

... bewies der Hürdenläufer Forrest Smithson seine technische Überlegenheit, indem er mit einer Bibel in der linken Hand lief und trotzdem Gold gewann. Im Marathon lief Dorando Pietri als Erster ins Stadion ein, im Zustand schwindender Sinne stürzte er aber auf der Schlussrunde fünf Mal. Jack Andrew, der Organisator, half Pietri über die Ziellinie - und disqualifizierte ihn später wegen «Inanspruchnahme fremder Hilfe».

1912 in Stockholm

... gab es im Ringen noch keine Regeln. Deshalb rangen der Este Martin Klein und der Finne Alfred Asikainen im Mittelgewicht 10:15 Stunden miteinander, dann wurde der Kampf abgebrochen. Im Halbschwergewicht dauerte der Final zwischen dem Finnen Ivar Böhling und dem Schweden Anders Ahlgren neun Stunden, wobei sich die beiden meist nur scharf in die Augen schauten. Auch dieser Kampf wurde abgebrochen. Beide Ringer erhielten Silber.

1920 in Antwerpen

... gewann Hubert van Innis als 54-Jähriger seine sechste Goldmedaille im Bogenschiessen. Seine ersten Medaillen hatte der Belgier 1900 in Paris gewonnen, dazwischen konnte er aus verschiedenen Gründen nie teilnehmen, sonst hätte er wohl alle Olympiarekorde gebrochen.

1924 in Paris

... wurde der amerikanische Boxer Joe Lazarus von den Punktrichtern zum Verlierer erklärt, nachdem er den Schweden Oscar Andren k.o. geschlagen hatte.

1928 in Amsterdam

... zählte der Kampf der argentinischen Fans gegen die Polizei nicht zum olympischen Boxturnier, war aber der Tiefpunkt der Veranstaltung. Vorher war Lambertus van Klaveren zum Sieger über den Argentinier Victor Peralta erklärt worden, wobei ausser den Punktrichtern niemand den Niederländer als Sieger gesehen hatte.

1932 in Los Angeles

... schickte Brasilien seinen Sportlern Sortimente von Kaffeebohnen mit, die verkauft werden mussten, um die Mannschaft zu finanzieren. Die Regeln im Ringen gestatteten es, dass der Deutsche Wolfgang Ehrl fünf Siege erkämpfte, einen gegen den Goldmedaillengewinner Giovanni Gozzi aus Italien, ungeschlagen blieb und doch nur Zweiter wurde.

1936 in Berlin

... nahm Dora Ratjen im Hochsprung teil. 21 Jahre später überraschte Ratjen mit einem «Coming Out»: Der richtige Vorname sei Hermann statt Dora; die Nazi-Bewegung habe sie zur Maskerade gezwungen. Die Rechnung von Hitler-Deutschland ging nicht auf, Ratjen kam nur auf den 4. Platz. Dafür gewann Stella Walasiewicz aus Polen Silber über 100 m. Bei ihrem Tod 1980 stellte man fest, dass «er» keine Frau war.

1948 in London

... wurde Schweden als Mannschafts-Sieger im Dressurreiten disqualifiziert. Die Skandinavier hatten Feldweibel Gehnäll Persson für die Dauer der Spiele zum Leutnant befördert, weil im Dressurreiten nur Offiziere und Gentlemen (reiche Zivilisten) starten durften. Persson trug keine Offizierskappe, weshalb der «Kunstgriff» aufflog.

1952 in Helsinki

... brillierte das Ehepaar Dana Zatopkova/Emil Zatopek. Es gewann viermal Gold. Zwei Monate vor den Spielen hatte der Doktor Emil Zatopek wegen einer Infektion die Teilnahme verboten. Zatopek, wegen seines stampfenden Laufstils «Lokomotive» genannt, wurde über 5000 m abgehängt, kämpfte sich aber heroisch noch an den Gegnern vorbei. Zatopek spielte später beim «Prager Frühling» eine aktive Rolle und wurde aller Ämter enthoben.

1956 in Melbourne

... traf Ungarn im Wasserball auf die Sowjetunion - kurz nach der blutigen Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes. Wasserball erhielt an diesem Tag eine neue Dimension. Es war eine Schlacht, die von den Schiedsrichtern beim Stand von 4:0 für Ungarn abgebrochen wurde. Das Zwischenresultat wurde in die Wertung genommen, so dass Ungarn am Ende Gold und die Sowjetunion Bronze gewann.

1960 in Rom

... gewann Abebe Bikila, Soldat der äthiopischen Palastwache, den Marathonlauf. Bikila bestritt das Rennen barfuss und meinte nachher, dass er sein Leben lang so gelaufen sei und auch künftig so laufen werde. 1964 holten Bikila nur die Vermarkter ein: Bei der Titelverteidigung trug er Socken und Puma-Schuhe, womit er die Konkurrenz um fünf Minuten distanzierte. Der drittplatzierte Japaner Kokichi Tsuburaya verkraftete die Schmach nicht. Er bekam Depressionen, erachtete die Fortsetzung der Karriere als aussichtslos und beging Selbstmord.

1964 in Tokio

... machte der Fliegengewichts-Boxer Choh Dong-Kih den Sitzstreik historisch. Zuvor war der Koreaner wegen eines Kopfstosses disqualifiziert worden. Weil er das Urteil nicht akzeptieren wollte, setzte er sich für 51 Minuten in die Ringmitte. Dann ging er doch - und in die Geschichte ein.

1968 in Mexiko

... wurde der sowjetische Boxer Boris Lagutin wie 1964 Olympiasieger. Zu Beginn des ersten Kampfes ging er aber auf den Ringrichter los statt auf den Gegner. Als die Zuschauer Münzen in den Ring warfen, bemerkte er den Irrtum. Schon 1960 hatte er Mühe bekundet, sein Können zu zeigen. Der erste Gegner wurde disqualifiziert, der zweite trat nicht an, der dritte, und das war schon im Final, wurde wiederum disqualifiziert, weil er nicht fassen konnte, dass Lagutin statt zu boxen zu ringen anfing.

1972 in München

... gewann der russische Gewichtheber Wassili Alexejew überlegen Gold im Superschwergewicht, nachdem er zum Frühstück 26 Spiegeleier gegessen hatte.

1976 in Montreal

... glaubte der farbige Ringer Lloyd Keaser nach fünf Siegen, er könne mit einem gewonnenen Punkt (erfolgreicher Griff) beliebig hoch verlieren und trotzdem Gold holen. Er tat dies denn auch mit Absicht (1:12). Keaser und die amerikanische Delegation hatten sich aber verrechnet. Keaser blieb nur Silber.

1980 in Moskau

... fehlten wegen des Afghanistan-Krieges über 60 Nationen. Das Niveau in einigen Sportarten war unsäglich schwach. Im Springreiten, in dem Russland den Nationenpreis gewann, waren die Teilnehmer nicht olympiareif. Nach fast jedem Reiter musste der gesamte Parcours neu aufgebaut werden.

1984 in Los Angeles

... fehlte wegen Boykotts der gesamte Ostblock. Darüber nicht unglücklich war der Architekt des Olympiastadions. Kurz vor Beginn der Spiele hatte der Deutsche Uwe Hohn mit einem Speerwurf-Weltrekord auf 104,80 m die Fachwelt geschockt. Weil durch Hohn die Stadien zu klein geworden waren, wurden die Vorschriften für die Konstruktion des Speers verändert.

1988 in Seoul

... genoss der Tennisspieler Alvaro Jordan eine Woche lang das Leben unter den anderen Sportlern im olympischen Dorf. Einen Tag vor seinem Einsatz im Doppel (fürs Einzel war er nicht qualifiziert) musste der Kolumbianer abreisen, weil sein Chef ihm die Ferien nicht verlängerte.

1992 in Barcelona

... überraschte der Amateurboxverband bei Halbzeit der Spiele seine Kampfrichter mit einem Alkoholtest. Ein Dutzend hatte den Grenzwert von 0,7 Promille überschritten.

1996 in Atlanta

... holte Boxer Paea Wolfgramm von den Tonga-Inseln Silber. Wolfgramm, ein 140-kg-Brocken mit stattlichem Hüftspeck, hatte kurz vor den Spielen erstmals geboxt. Die zu den schwergewichtigsten Völkern zählenden Südsee-Insulaner wurden im Namen des Königs aufgefordert, einen Fastentag einzulegen und zu beten. Hätte Wolfgramm den Final gewonnen, hätte ihm der König halb Tonga geschenkt.

2000 in Sydney

... legte die britische Judoka Debbie Allan bei der Wägezeremonie einen Striptease hin. Weil die Waage immer noch zu viel anzeigte, riss sich die Europameisterin in der 52-kg-Klasse aus Verzweiflung auch die Unterwäsche vom Leib, nachdem sie schon ihre Haare abgeschnitten und drei Stunden lang geschwitzt hatte. Alles half nichts: 50 Gramm zu viel bedeuteten das Olympia-Aus.

2004 in Athen

...wurde die Britin Paula Radcliffe von ihrem Sponsor zum Teufel gejagt, nachdem sie sowohl über 10'000 m wie im Marathon aufgegeben hatte. Der Hersteller von Birchermüesli hatte mit Radcliffe und dem Slogan geworben: «Es hilft dir ins Ziel». Mehr Glück hatten die US-Turner mit ihrem Sponsor. Sie kooperierten mit der beliebtesten Radiostation von Kansas City. Diese spielte den gleichen Song so lange ohne Unterbruch, bis genug Geld gespendet worden war.

2008 in Peking

... rastete Angel Matos, in Sydney Olympiasieger im Taekwondo, im Kampf um Bronze aus. Der Kubaner führte 3:2, als er sich bei einer Aktion am Fuss verletzte. Matos wurde disqualifiziert, weil er am Ende der Behandlungszeit noch nicht wieder kämpfen konnte. Darauf verlor er die Nerven und setzte den Schiedsrichter mit perfekter Fusstechnik ausser Gefecht. Matos wurde lebenslänglich gesperrt.

2012 in London

... wollten in der Vorrunde im Badminton gleich vier Teams mit Absicht verlieren, um in die scheinbar leichtere Tableauhälfte der K.o.-Phase zu kommen. Schnell wurde klar: Zum Verlierer wird, wer aus Versehen den Federball übers statt ins Netz spielt. Die Teams erhofften sich eine bessere Ausgangslage für die K.o.-Phase. Die Rechnung ging nicht auf. Alle acht Spielerinnen wurden ausgeschlossen.

2016 in Rio

... erforderten Brasiliens Gesetze, dass während des Schwimmens wegen der vielen Besucher (inklusive Zuschauer) stets 75 Bademeister Dienst leisteten. Ein Fastfood-Gigant, Olympia-Sponsor seit 1976, limitierte das Gratis-Essen im Athletendorf, weil Fressen zur Challenge wurde. Der für Australien antretende, in Sri Lanka geborene Badminton-Spieler Sawan Serasinghe bestellte für sich 27 Cheeseburger, 40 Chicken Nuggets, 12 Desserts und 1 Cola Zero. Nach Rio beendete McDonalds nach 40 Jahren sein Sponsoring-Engagement.

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