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Sportlicher Neuanfang mit redimensionierten Zielen

Die Strukturen in der Rhythmischen Gymnastik müssen angepasst und die sportlichen Zielsetzungen stark redimensioniert werden. Dies bringt der vom STV in Auftrag gegebene Untersuchungsbericht zutage.

Agentur
sda
29.01.21 - 18:22 Uhr
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Die Zielsetzungen in der Rhythmischen Gymnastik müssen in der Schweiz redimensioniert werden. (Symbolbild)
Die Zielsetzungen in der Rhythmischen Gymnastik müssen in der Schweiz redimensioniert werden. (Symbolbild)
KEYSTONE/EPA/TATYANA ZENKOVICH

«Sich für Olympia zu qualifizieren, ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen und der aktuellen Infrastrukturen nicht realistisch», schreibt die Zürcher Anwaltskanzlei Pachmann Rechtsanwälte in ihrer Untersuchung, welche der STV in Auftrag gegeben hat, nachdem im Juni jahrelange Verfehlungen in der Rhythmischen Gymnastik öffentlich geworden waren.

Für die unabhängige Untersuchung befragte die Anwaltskanzlei aktuelle und ehemalige Athletinnen, deren Angehörige, sowie Funktionäre und Trainerinnen. Aus den Interviews, der Auswertung von Datenmaterial sowie der Rücksprache mit einem Expertengremium, dem auch die ehemalige Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, die Wasserspringerin Michelle Heimberg und die ehemalige Eiskunstläuferin Sarah Meier angehörten, leitete Pachmann Rechtsanwälte acht Handlungsempfehlungen ab.

Zu diesen gehören die Überarbeitung der Governance-Strukturen sowie ein umfassendes Controlling, aber auch die Anpassung der Trainingsmethoden und der Zielsetzungen an die bestehende Infrastruktur. Eine Zentralisierung sei im Juniorenalter (bis 16) nicht zwingend und auch nicht zu empfehlen. «Das Kindeswohl geniesst höchste Priorität», sagte Thilo Pachmann.

Neue Führung

Seit ehemalige Gymnastinnen im Juni gegenüber «Blick» und «NZZ» von physischen und verbalen Übergriffen in der Rhythmischen Gymnastik berichtet hatten, blieb im STV kein Stein auf dem anderen. Felix Stingelin, der Chef Spitzensport, wurde suspendiert. Der langjährige Geschäftsführer Ruedi Hediger trat im November zurück, Fabio Corti wurde auf Beginn des Jahres als neuer Zentralpräsident und Nachfolger von Erwin Grossenbacher gewählt.

An der am Freitag digital durchgeführten Pressekonferenz entschuldigte sich der Tessiner Corti im Namen des Verbandes bei allen Betroffenen: «Ein ehrliches und direktes 'Sorry'.» Und er versprach das Vergangene aufzuarbeiten. Ihm schwebt unter anderem ein «Götti-System» vor, in das ehemalige Athletinnen eingebunden werden sollen. Die Einzelbeschickung von Wettkämpfen soll fortan wieder möglich sein, die Olympischen Spiele 2024 in Paris sind für den STV in der Rhythmischen Gymnastik aber kein Ziel.

«Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können die Zukunft gestalten», sagte die neue STV-Direktorin Béatrice Wertli. «Das Ziel ist, Transparenz zu schaffen und das Vertrauen in den Verband zu stärken.» Zusammen mit dem neuen Chef Spitzensport, der bis Juni eingesetzt werden soll, wird Wertli die Überarbeitung des Spitzensportkonzeptes der Rhythmischen Gymnastik in Angriff nehmen.

Vorwürfe gegen entlassene Dineva nicht erhärtet

Laut dem Bericht sollen auch die Geschehnisse vor 2013 aufgearbeitet werden. Auch unter der ehemaligen Nationaltrainerin Heike Netzschwitz, die mehr als 20 Jahre für den STV tätig war, ist es laut Aussagen von Athletinnen zu Verfehlungen gekommen. 2012 hatten die Schweizerinnen unter der Führung der Deutschen die erstmalige Olympiaqualifikation mit dem Team nur knapp verpasst.

Die Untersuchung brachte aber auch zutage, dass die vom «Blick» publik gemachten Vorwürfe gegen die ehemalige Nationaltrainerin Iliana Dineva nicht erhärtet werden konnten. Dineva, die als Folge davon im Juni 2020 vom STV freigestellt wurde, hatte diese Anschuldigungen stets dementiert. Die Verantwortlichen des STV wollten sich aufgrund des Persönlichkeitsschutzes zu diesem Fall nicht äussern.

Die Untersuchung wurde von Swiss Olympic eng begleitet. Versäumnisse von Seiten des Dachverbandes des Schweizer Sports gab es aus Sicht von Direktor Roger Schnegg aber keine. Sie hätten sich ihrer Ansicht nach korrekt verhalten. «Aber wahrscheinlich hätten alle Beteiligten, die in diesem Umfeld tätig sind, etwas aktiver sein können.» Ab 2022 soll nun eine nationale unabhängige Meldestelle eingeführt werden. Der Exekutivrat von Swiss Olympic hiess diese an einer Sitzung im November gut. Auch das eidgenössische Parlament stimmte während der Dezember-Session einer Motion zur Einrichtung einer solchen zu.

Untersuchung im «Fall Martin»

Die öffentliche Debatte über die Missstände im STV hatte auch eine Reportage des «Magazins» Ende Oktober befeuert, in der neben fünf ehemaligen Gymnastinnen auch zwei erst wenige Monate zuvor zurückgetretene Kunstturnerinnen zu Wort kamen. Die beiden prangerten die Trainings- und Umgangsmethoden in Magglingen auch im Kunstturnen an und kritisierten den Frauen-Nationaltrainer Fabien Martin. In der Folge nahmen die Athletinnen des Nationalkaders ihren Trainer in einem an die Öffentlichkeit gerichteten Brief allerdings in Schutz.

Dieser Fall ist Teil einer laufenden Untersuchung der neu geschaffen Ethik-Kommission des STV, die vom Juristen Daniel Mägerle präsidiert wird und in der unter anderen auch der ehemalige Kunstturner Roman Gisi als Athletenvertreter Einsitz nimmt.

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