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Eine verpasste Goldmedaille und ein Tritt ins Fettnäpfchen

Franziska van Almsick war der erste Sportstar des wiedervereinten Deutschland. Die Berlinerin gewann WM-Titel und Olympia-Medaillen, kassierte aber auch bittere Niederlagen und trat in Fettnäpfchen.

Agentur
sda
23.08.20 - 04:30 Uhr
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Auf europäischer Ebene war Franziska van Almsick ein Jahrzehnt lang eine Klasse für sich. 21 Medaillen gewann die Ostberlinerin an Europameisterschaften im 50-m-Becken, 18 davon goldene. Am 23. August 1995 verschenkte der Teenager in Wien aber einen weiteren EM-Titel leichtfertig.

In den Vorläufen über 200 m Crawl, ihrer Paradestrecke, verpasste die amtierende Weltmeisterin in für sie indiskutablen 2:02,99 den Einzug in den Final. Erst im B-Final fand van Almsick zur gewohnten Form zurück und verbesserte ihre Jahresweltbestzeit um eine knappe halbe Sekunde auf 1:57,71. EM-Gold ging an ihre Teamkollegin Kerstin Kielgass. Die Siegerzeit: 2:00,56.

Zwei Tage später sorgte van Almsick ausserhalb des Beckens für Wirbel. In einem Interview mit dem «Sport» antwortete die 17-Jährige auf die Frage, welche ihre Lieblingsfigur der Geschichte sei: «Hitler. Das soll aber nicht heissen, dass ich Fan bin. Mich interessiert das Phänomen.» Hitler sei eigentlich ganz schlau gewesen. Sie habe «Mein Kampf» gelesen und plötzlich verstanden, «wie er das gemacht hat, seine Wege».

Van Almsicks Manager Werner Köster, der das Interview autorisiert hatte, zeigte sich erbost: «Man hat aus der Antwort Franziskas etwas völlig Falsches gemacht.» Es sei entweder Gedankenlosigkeit oder Böswilligkeit gewesen, die Aussagen über Hitler in ein falsches Licht zu rücken, sagte Köster. «Sport»-Chefredaktor Peter Zwicky erklärte auf Anfrage der Nachrichtenagentur Sportinformation: «Köster verdreht die Sachlage.» Sie hätten ihm die Notiz mit Hitler als Franziskas Lieblingsfigur vorgelegt, worauf dieser nur eine Ergänzung verlangt habe.

Auf Umwegen zum WM-Titel

Ein sportlicher Lapsus wie in Wien war van Almsick bereits ein Jahr zuvor an den Weltmeisterschaften in Rom unterlaufen. Im Gegensatz zur EM endete die Geschichte im Foro Italico aber mit einem Happy End. Die Deutsche hatte sich im Vorlauf verpokert, als sie mit einer mässigen Rangierung in den Final einziehen wollte, um dort auf einer Aussenbahn zu schwimmen. Als Neunte verpasste sie jedoch den Final. Das Glamour-Girl spürte die Schadenfreude - auch in den eigenen Reihen. Für viele sei es ein gefundenes Fressen gewesen, «dass das kleine gefeierte Küken versagt habe», sagte van Almsick.

Erst der Verzicht ihrer Teamkollegin Dagmar Hase ermöglichte van Almsick die Final-Teilnahme. «Einen Blumenstrauss» habe es gegeben, verriet Hase später, «aber keine Urlaubsreise eines Sponsors.» Gerüchte hatten die Runde gemacht, Hase sei unter Druck gesetzt oder gar bezahlt worden. Van Almsick packte ihre zweite Chance und schwamm auf der Aussenbahn zu Gold und einem Weltrekord (1:56,78). Danach flossen bei der 16-Jährigen die Tränen. Es blieb der grösste Erfolg van Almsicks, die vier Jahre später in Perth mit der Staffel über 4x200 m Crawl noch einmal WM-Gold gewann.

Olympia-Gold blieb ihr verwehrt

An Olympischen Spielen blieb ihr der Sprung auf das oberste Podest jedoch verwehrt. 1992 war van Almsicks Stern an den Spielen in Barcelona aufgegangen, als die 14-jährige Berliner Göre unbekümmert und frech zu je zweimal Silber und Bronze schwamm. «Franzi» war in aller Munde und wurde zum ersten Superstar im wiedervereinigten Deutschland.

In Atlanta 1996, Sydney 2000 und Athen 2004 gewann sie weitere sechs Medaillen, ihr Abschneiden wurde aber eher als Enttäuschung gewertet. In Atlanta war sie über ihre Paradestrecke als grosse Favoritin angetreten, musste sich aber Claudia Poll aus Costa Rica geschlagen geben, die später wegen Dopings zwei Jahre gesperrt wurde. 2000 in Sydney schied van Almsick im Halbfinal über 200 m Crawl aus, worauf der Berliner Boulevard sie als «Franzi van Speck» betitelte.

EM 2002 in Berlin als Höhepunkt

Den letzten Höhepunkt erlebte sie 2002 an den Europameisterschaften in ihrer Heimatstadt Berlin, als sie es mit sechs Titeln allen noch einmal zeigte. «Es war der grösste Erfolg, den ich für mich feiern durfte», sagte van Almsick 2019 in einer Talkshow des NDR. Ihre Familie, die gewöhnlich nie mit dabei war, sass ebenso in der Halle wie ihre Grosseltern. «Ich hatte schwierige Jahre im Vorhinein, dann war das wie eine Auferstehung.»

Auch nach ihrem Rücktritt 2004 blieb van Almsick, die vier Jahre mit dem Handballer Stefan Kretzschmar liiert war, eine Person des öffentlichen Lebens. Neben ihrer Biografie «Aufgetaucht» veröffentlichte die Berlinerin auch Kinderbücher. Sie hat eine eigene Stiftung, arbeitet als TV-Expertin und Werbebotschafterin und engagiert sich für diverse karitative Organisationen. Mit ihrem Lebenspartner und den beiden Söhnen lebt sie in Heidelberg.

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