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Eine olympische Goldmedaille als Verpflichtung

Die Marokkanerin Nawal El Moutawakel gilt als Vorreiterin der islamischen Frauenbewegung im Sport. Die Olympiasiegerin von 1984 und Mitglied des IOC-Exekutivkomitees feiert ihren 58. Geburtstag.

Agentur
sda
15.04.20 - 04:30 Uhr
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Nawal El Moutawakel wurde durch ihren Olympiasieg 1984 in Los Angeles zum Vorbild für viele muslimische Frauen
Nawal El Moutawakel wurde durch ihren Olympiasieg 1984 in Los Angeles zum Vorbild für viele muslimische Frauen
KEYSTONE/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Nawal El Moutawakel gehört zu den einflussreichsten Sportfunktionärinnen der Welt. 1995 wurde sie als eine der ersten Frauen Mitglied des Councils des Leichtathletik-Weltverbandes (heute World Athletics), drei Jahre später die erste Muslimin im Internationalen Olympischen Komitee (IOC). Von 2012 bis 2016 war sie Vizepräsidentin des IOC, seit diesem Jahr gehört sie wieder dem Exekutivkomitee an, in dem sie bereits von 2008 bis 2012 sass. Zwischenzeitlich wurde El Moutawakel sogar als Nachfolgerin von Jacques Rogge als IOC-Präsidentin gehandelt, ehe der Deutsche Thomas Bach 2013 die Nachfolge des Belgiers antrat.

Sportgeschichte als Athletin schrieb El Moutawakel an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles, die von der Sowjetunion und den meisten anderen sozialistisch regierten Ländern boykottiert wurden. Im Final über 400 m Hürden - die Disziplin wurde bei den Frauen erstmals ausgetragen - gewann sie als erste Muslimin und Afrikanerin eine olympische Goldmedaille. «In 54 Sekunden wurde ich aus dem Nichts zur Heldin», sagte El Moutawakel 2018 in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Geboren wurde El Moutawakel am 15. April 1962 in Casablanca als eines von fünf Geschwistern. Die El Moutawakels waren eine sportliche Familie. Der Vater war ein früherer Judoka, die Mutter eine Volleyballerin, die fünf Kinder betrieben alle Leichtathletik. Als «sehr positiv und unterstützend» beschrieb Nawal El Moutawakel ihr Umfeld, was in den Sechziger- und Siebzigerjahren für muslimische Mädchen eher die Ausnahme als die Regel war.

Wie im Sport spielten die Frauen damals in Marokko auch in der Gesellschaft kaum eine Rolle. «Es gab keine Frauen in Regierungsämtern oder in bedeutenden wirtschaftlichen Positionen, keine Trainerinnen, keine Journalistinnen», sagte El Moutawakel 2018 gegenüber Keystone-SDA. «Ich fühlte mich als Mitglied der Olympia-Mission 1984 in Los Angeles völlig einsam als einzige Frau in einer totalen Männergesellschaft.»

Zu ihrem Wettkampf über 400 m Hürden trat El Moutawakel als Aussenseiterin an. Ein Jahr zuvor, an den ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Helsinki, hatte sie den Finaleinzug verpasst. «Ich dachte, dass es diesmal für den Final und einen Platz in den ersten acht reichen könnte», sagte sie 30 Jahre nach ihrem Triumph. Erst ihre Trainer hätten ihr vor dem Final den Glauben verliehen, dass sie das Rennen gewinnen könne.

Trotz schlafloser Nacht, feucht-heisser Bedingungen und eines Fehlstarts einer Konkurrentin lief El Moutawakel im Los Angeles Memorial Coliseum das Rennen ihres Lebens. «Ich startete wie aus der Pistole geschossen», sagte die 1,62 grosse Marokkanerin, die dank eines Stipendiums an der Iowa State University in den USA trainierte. Gewachsen war ihr niemand, wobei El Moutawakel auch von der günstigen Bahneinteilung profitierte. In 54,61 Sekunden siegte sie mit knapp sechs Zehnteln vor der amerikanischen Mitfavoritin Judi Brown.

Noch in den Katakomben erhielt El Moutawakel einen Telefonanruf des marokkanischen Königs Hassan II, der ihr zum Sieg gratulierte - und sie Jahre später zur Staatssekretärin für Jugend und Sport ernannte. Das Land stehe Kopf, sagte der König in den frühen Morgenstunden und erklärte, dass zur Feier des Tages alle an diesem Tag geborenen Mädchen Nawal heissen sollten. «Dieser Tag ist jedem in Marokko in Erinnerung geblieben», so El Moutawakel.

Mit ihrem Sieg wurde El Moutawakel über Nacht zur Ikone und zum Vorbild für muslimische Frauen. «Viele schrieben mir später und bedankten sich dafür, was ich für sie und den Sport geleistet habe», sagte die Marokkanerin 2012 in einem Interview mit der «Financial Times». «Viele Frauen, ob mit oder ohne Schleier, sagten mir, dass ich sie befreit hätte.» Der Gewinn der olympischen Goldmedaille 1984 in Los Angeles wurde für die heute 58-Jährige zur Verpflichtung.

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