Urs Meier sieht Schärer als «Polarstern, der die Richtung weist»
Der frühere Spitzenschiedsrichter Urs Meier freut sich, stehen an der EM in Deutschland mit Sandro Schärer und seinem Team endlich wieder Schweizer Schiedsrichter bei einem grossen Turnier im Einsatz.
Der frühere Spitzenschiedsrichter Urs Meier freut sich, stehen an der EM in Deutschland mit Sandro Schärer und seinem Team endlich wieder Schweizer Schiedsrichter bei einem grossen Turnier im Einsatz.
Urs Meier war einer der besten Schweizer Schiedsrichter und pfiff an je zwei Welt- und Europameisterschaften. Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA spricht der 65-Jährige über die Selektion von Sandro Schärer für die EM in Deutschland, Versäumnisse bei den nationalen Verbänden und seine teils turbulenten Erfahrungen bei Europameisterschaften. Und Meier sagt, weshalb die Einführung der Videoschiedsrichter mehr Probleme geschaffen als gelöst hat.
Urs Meier, mit Sandro Schärer und seinen Assistenten Stéphane De Almeida und Bekim Zogaj sowie Fedayi San als VAR sind bei der Europameisterschaft in Deutschland erstmals seit 2010 wieder Schweizer Schiedsrichter an einem grossen Turnier dabei. Wie wichtig ist das für das Schweizer Schiedsrichterwesen?
«Sehr, sehr wichtig. Es ist tatsächlich eine sehr lange Durststrecke, die wir da durchschritten haben. Bis 2010 hatte die Schweiz seit 1934 immer einen Schiedsrichter an einer Weltmeisterschaft dabei. Dass Sandro (Schärer) und sein Team jetzt an der EM dabei sind, ist ein unglaublich wichtiges Zeichen. Jetzt ist der rote Faden wieder aufgenommen. Und hoffentlich geben wir ihn nie wieder ab.»
Worauf führen Sie es zurück, dass vierzehn Jahre vergingen, bis wieder ein Schweizer Gespann aufgeboten wurde?
«Diese Entwicklung hat man kommen sehen. Die Schweiz wurde links und rechts überholt von anderen Nationen. Die Professionalisierung wurde in der Schweiz nicht umgesetzt, was auch ein Grund dafür war, warum ich 2011 als Chef der Spitzenschiedsrichter demissioniert habe. Weil ich schon lange gemahnt hatte, dass das passieren würde, wenn sich das ganze Schiedsrichterwesen nicht professioneller aufstellt.»
Wie meinen Sie das?
«Ich habe den damaligen Zentralpräsidenten des Schweizerischen Fussballverbandes auf die Problematik der fehlenden Professionalisierung aufmerksam gemacht. Und er meinte, die Schiedsrichter hätten ja schon viele Verbesserungen erhalten in den letzten Jahren, wir könnten nicht immer mehr fordern. Im übertragenen Sinn haben wir eine neue Lackierung und ein neues Lenkrad bekommen. Aber was wir nicht bekamen, aber dringend gebraucht hätten, wäre eigentlich ein neuer Motor. Und wenn wir keinen neuen Motor bekommen, dann sind wir in der Formel 1 nicht mehr wettbewerbsfähig und werden nach hinten durchgereicht. Der Motor wäre eigentlich die Professionalisierung gewesen von den Schiedsrichtern.»
Mitte Mai absolvierten alle 89 für die EM Selektionierten ein von der UEFA durchgeführtes Vorbereitungscamp in Frankfurt. Auf dieser Stufe scheint die Professionalisierung weiter vorangeschritten.
«Ja, auf Stufe der UEFA und der FIFA sind die Strukturen für Schiedsrichter schon länger gut. Man kann sich professionell vorbereiten, verfolgt ein genaues Trainingsprogramm und hat auch die Möglichkeit, zu regenerieren. Wir hatten damals auch einen Konditionstrainer und einen Psychologen dabei. So sollte es auch in den Meisterschaften sein.»
Sie waren 2000 und 2004 an zwei Europameisterschaften dabei. Welche Erinnerungen verbinden Sie damit? Nach dem Viertelfinal 2004 zwischen Portugal und England gerieten Sie ungewollt in die Schlagzeilen.
«Insgesamt habe ich fünf hervorragende Spiele an Europameisterschaften erlebt. Auch wenn das ganz grosse Spiel in Form eines Halbfinals oder Finals gefehlt hat. Aber klar schwingt diese Partie zwischen Portugal und England und was danach passierte immer mit, wenn ich daran zurückdenke.»
Nach einem korrekterweise aberkannten Tor der Engländer wurde in England eine Kampagne gegen Sie lanciert, private Informationen veröffentlicht, und Sie erhielten Morddrohungen. Kann so etwas auch heute passieren?
«Ich hoffe es nicht. Es wäre fatal, wenn man aus so einem Vorfall nichts gelernt hat. Es ist wirklich wichtig, dass die Verbände die Schiedsrichter schützen, vor allem, wenn diese einen richtigen Entscheid gefällt haben, aber auch, falls es ein Fehlentscheid gewesen sein sollte.»
Apropos Fehlentscheide. Um diese zu verhindern, wird heute viel mehr auf technische Hilfsmittel vertraut als zu Ihrer Aktivzeit. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
«Die Torlinientechnik habe ich zusammen mit dem damaligen FIFA-Präsidenten Sepp Blatter eingeführt, weil wir die Problematik »Tor oder nicht Tor« angehen wollten. Als Schiedsrichter kannst du auf dem Feld nicht sehen, ob ein Ball hinter der Linie war oder nicht. Deshalb haben wir uns dafür eingesetzt. Aber wir wussten, dass danach auch der Videoassistent gefordert werden würde und Entscheide gefällt werden würden, die mit der Technik gar nicht gelöst werden können.»
Wie meinen Sie das?
«Das Problem ist, dass der Airbag, den man durch den VAR geschaffen hat, nicht immer aufgeht. Vielleicht geht er sogar falsch auf. Er geht auf, wo er nicht sollte, oder er geht nicht auf, wo er sollte. Es gibt also keine Sicherheit. Wenn alles zu 100 Prozent funktionieren würde, würden wir schon lange nicht mehr darüber diskutieren. Aber wir diskutieren, weil es einfach nicht funktioniert.»
Sind Sie froh, gab es den VAR zu Ihrer Aktivzeit nicht?
«Absolut. Ich sage immer wieder: Wir sind damals über das Hochseil gelaufen ohne Fangnetz. Wir haben genau gewusst, wenn wir einen Fehler machen, wenn wir etwas nicht gesehen haben, dann werden wir relativ stark aufprallen, und es wird wehtun. Also waren wir entsprechend konzentriert.»
Und heute?
«Heute gibt es das Fangnetz. Hat jemand etwas nicht gesehen, hat es vielleicht der Videoschiedsrichter gesehen. Es ist nicht mehr die gleiche Konsequenz. Man macht nicht mehr die letzten Meter, man kämpft nicht mehr um die beste Position auf dem Feld. Man übernimmt nicht mehr die Verantwortung, die wir früher einfach übernehmen mussten. Wir müssen wieder dahin kommen, dass die Schiedsrichter und ihre Assistenten verantwortlich sind dafür, was sie machen. Dass sie konzentriert sind und vorausschauend agieren anstatt Verantwortungen abschieben.»
Wie gelingt das?
«In den letzten Jahren ist viel Geld und Energie in den Videoassistent investiert worden. Und meiner Meinung nach zu wenig in die Ausbildung von den Schiedsrichtern, in die Ausbildung der Persönlichkeit und vom Fussballverständnis. Jetzt muss man umdenken. Wenn ich sehe, wie die Vereine in den grossen Ligen arbeiten und dann vergleiche, wie die Schiedsrichter arbeiten, ist das ein riesiger Unterschied. In der deutschen Bundesliga müssten die Schiedsrichter das 19. Team sein. Mit denselben Ressourcen und derselben Infrastruktur wie ein Profiverein. Aber das ist eine Thematik, die schon seit 20 Jahren diskutiert wird. Die Verbände verändern nichts, und hoffen, dass irgendwann doch ein Toptalent wie Sandro Schärer auftaucht. Er ist wirklich ein Glücksfall.»
Was trauen Sie Schärer an der Europameisterschaft zu?
«Sandro bringt alles mit, was ein guter, moderner Schiedsrichter braucht. Er ist am Anfang seiner internationalen Karriere. Die EM ist sein erstes grosses Schaufenster, in dem er sich präsentieren darf. Und ich bin überzeugt, dass er all das, was ich erleben durfte, auch erleben wird, und vielleicht noch viel mehr. Er ist noch jung und wird bei mehr Welt- und Europameisterschaften dabei sein als ich es war.»
Dann glauben Sie, dass nicht wieder 14 Jahre vergehen werden, bis Schweizer Schiedsrichter an grossen Turnieren mitwirken werden?
«Wie gesagt, der rote Faden ist nun wieder aufgenommen. Für den Verband ist es wichtig, dass hinter Sandro Schärer eine starke Nummer 2 aufgebaut wird, die auch in der Champions League aktiv ist. Es muss das Ziel sein, dass möglichst viele Schiedsrichter in die Elitegruppe der UEFA aufgenommen werden, die dann hinter Sandro wachsen können. Er ist der Polarstern, der die Richtung weist, und ich hoffe natürlich, dass er an der EM so richtig glänzen wird.»