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SFV-Captain Xhaka äussert sich über Kritik und Frust

Etwas mehr als drei Wochen nach dem 1:6 gegen Portugal spricht Granit Xhaka erstmals über das Achtelfinal-Debakel der Schweiz.

Agentur
sda
29.12.22 - 14:02 Uhr
Fussball

Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA äussert sich der SFV-Captain ausführlich zur WM in Katar. Er reagiert auf die Debatte um seine Rolle im Nationalteam.

Lange hat Xhaka geschwiegen, lange brauchte er Zeit, um das krachende Out in Doha zu verarbeiten. Nach Kurzferien mit der Familie bereitet sich der 30-Jährige in London auf den zweiten Teil der Premier-League-Saison vor. In einem längeren Telefonat demonstriert der 111-fache Internationale Entschlossenheit: «Auf mich kann weder in der Schweiz noch im Ausland einer mit dem Finger zeigen, ich hätte zu wenig gemacht. Ich bin brutal stolz auf meinen Weg.»

Er brauche keine landesweite Zuneigung, aber die Diskussionen um seine Rolle irritieren den Arsenal-Star: «Ich bin nicht als Captain geboren, das Bändeli ist nicht das Ergebnis von einem guten Spiel, dahinter steckt jahrelange harte und ehrliche Arbeit. Ich habe im Verlauf meiner Karriere schon viele grosse Steine aus dem Weg geräumt.»

Granit Xhaka, haben Sie es geschafft, nach dem bitteren Out vor dem TV-Gerät mit der WM in Verbindung zu bleiben?

«Ich habe mir alle Spiele angeschaut, nicht nur den Final. Einen spektakuläreren Final hätte man sich kaum vorstellen können. Grossartig, wow! Argentinien schrammte wie gegen Holland haarscharf am Knock-out vorbei. Und hätte Martinez diese unfassbare Parade nicht gemacht in der 123. Minute, wäre es für die Argentinier bitter ausgegangen.»

Sie kennen den argentinischen WM-Goalie gut. Er bestritt 2009 wie Sie die U17-WM. Die Argentinier schieden damals im Achtelfinal aus, die Schweiz gewann den Titel.

«Im Herbst nach meiner Ankunft in London stellten wir fest, dass wir beide in Nigeria das U17-Turnier gespielt haben. Bei Arsenal waren wir während fast fünf Saisons gute Teamkollegen. Er war bei uns die Nummer 3 - hinter Cech und Ospina. Als Leno kam, rückte er zur Zwei auf. Und 2020 gewannen wir mit ihm im Tor den FA-Cup. Ich wusste genau: Wenn Argentinien das Penaltyschiessen erreicht, gewinnen sie. Emiliano ist ein brutal starker Penalty-Killer. Jetzt ist er Weltmeister, und wir sind mit einer 1:6-Packung aus dem Stadion gefegt worden.»

Zurück zu Ihnen. Was blieb haften vom Achtelfinal-Debakel gegen Portugal?

«Ganz ehrlich, ich brauchte mehrere Tage, um dieses Resultat zu verarbeiten. Es war ein ganz komisches Spiel. Nur schon die massive Differenz bei der Laufleistung fällt auf. Die Portugiesen liefen zehn Kilometer mehr. So hat man in einem Achtelfinal im Normalfall keine Chance.»

Wie kann so etwas passieren?

«Wieso, weshalb, warum? Taktische Gründe zu erwähnen ist mir zu einfach. Die Laufbereitschaft hat nichts mit der Taktik zu tun. Das ist meine Meinung. Mein Frust ist nach wie vor gross, weil ich so überzeugt war wie nie zuvor, dass es uns gelingen würde, die Portugiesen zu stoppen. Auch deshalb ist die Höhe der Niederlage schwer zu akzeptieren.»

Die Frage nach dem Warum bleibt. Der Auftritt war im wichtigsten WM-Moment diffus.

«Die Portugiesen waren frischer, ausgeruhter. Sie tauschten acht Positionen aus im Vergleich zum letzten Gruppenspiel. Wir hatten angeschlagene Spieler, aber wenig Optionen. Und ganz klar: Das intensive Duell mit Serbien kostete richtig viel Kraft und Energie im mentalen Bereich.»

Sie sprechen den hohen Energieverlust selber an. Viele Beobachter wiesen auf Parallelen zum WM-Verlauf 2018 hin. Auch damals folgte nach einem spektakulären Gruppen-Finish gegen die Serben eine schwache Leistung im Achtelfinal, seinerzeit gegen Schweden.

«Lassen Sie mich etwas ausholen. Der diesjährige WM-Auftakt gegen Kamerun (1:0) war ganz okay, mehr nicht. Hätten wir so weitergespielt, wären wir wohl bereits gegen Brasilien untergegangen, und gegen Serbien wäre es nicht gut herausgekommen. Dann kam die nötige Steigerung - eine sehr gute Defensiv-Leistung gegen einen der Turnierfavoriten (Brasilien) und eine riesige Leistung gegen die Serben, die ich viel höher einstufe als beim Vergleich vor vier Jahren in Russland. Wir mussten entsprechend ans Limit gehen.»

Dieses Szenario wird sich für die Schweiz in der Gruppenphase aber wohl auch in den kommenden Jahren wiederholen. Die SFV-Auswahl dürfte kaum einmal die Beine hochlagern können am dritten Spieltag.

«Das sehe ich zu hundert Prozent so. Wir werden immer wieder alle Kräfte mobilisieren müssen, um überhaupt die Achtelfinals erreichen zu können. Schonung liegt bei uns nie drin. Nie!»

In der Analyse spielten einige Beobachter auf den Mann. TV-Mann Sascha Ruefer stiess eine öffentliche Debatte an, ob Sie künftig noch der richtige Captain für die Schweizer Mannschaft seien. Wie ist diese Kritik bei Ihnen angekommen?

«Mich stört, dass sie nicht professionell genug sind, im Zusammenhang mit mir über Fussball zu sprechen. Es geht plötzlich um andere Themen. Ich will ihnen eigentlich gar keine weitere Aufmerksamkeit schenken und ihre Aussagen kommentieren. Wenn sie aber das Gefühl haben, dass ich nicht der richtige Captain sei, kümmert mich das nicht weiter.»

Sie bleiben Captain?

«Ich bin nicht als Captain geboren, das Bändeli ist nicht das Ergebnis von einem guten Spiel, dahinter steckt jahrelange harte und ehrliche Arbeit. Ich habe im Verlauf meiner Karriere schon viele grosse Steine aus dem Weg geräumt. Auf mich kann weder in der Schweiz noch im Ausland einer mit dem Finger zeigen, ich hätte zu wenig gemacht. Ich bin brutal stolz auf meinen Weg. Und etwas sollten die Experten nie vergessen: Im Fussball wird alles auf dem Platz entschieden, aber nichts im TV-Studio.»

Was kommt oder kam neben einer persönlichen Captain-Huldigung zu Ihren Gunsten von Manuel Akanji aus dem Team an Rückmeldung? Spüren Sie verschiedene Strömungen?

«Manuels Posting schätze ich sehr. Ich habe vor ihm grossen Respekt - als Mensch, als Spieler. Zu Ihrer zweiten Bemerkung: Nicht jeder versteht sich innerhalb einer Mannschaft gleich gut. Das ist völlig normal. Ich erwarte aber einen offenen und kritischen Austausch. Als Captain lebe ich das täglich vor: Ich sage meine Meinung direkt, ich arbeite nie hinter dem Rücken von anderen.»

Es gibt Kritiker, die Ihnen vorwerfen, sie seien zu einflussreich, zu mächtig. Andere Spieler würden sich nicht trauen, die Meinung zu sagen.

«Vor mir muss keiner Angst haben, mir geht es nicht um Personalpolitik, mir geht es um Fortschritte. Ich will gewinnen, im Training, im Spiel, immer. Ich versuche, allen zu vermitteln, dass es nicht reicht, einfach nur dabei zu sein. Mit einem Breel (Embolo) und Ricci (Ricardo Rodriguez) gehe ich genauso hart ins Gericht wie mit allen anderen. Primär geht es mir darum, dem Team zu helfen. Es geht um die Leistung, um grosse Ziele, um nichts anderes. Das sind keine Machtspielchen. Ich will Erfolg! Es geht dabei nicht um Granit, um Breel oder um Akanji, sondern um die Schweizer Mannschaft. That’s it, ganz simpel.»

Glauben Sie, die Nebengeräusche nach dem 1:6 müssten innerhalb des Teams noch einmal aufgearbeitet werden?

«Es ist natürlich schade, sehen wir uns erst im März wieder. Direkt nach dem WM-Out war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Austausch. Konkret geplant ist aktuell nichts. Sollte es nötig sein, als Captain etwas zur Mannschaft zu sagen, werde ich das sicherlich machen. Muri (Yakin) wird das Thema bestimmt nochmals aufgreifen beim nächsten Zusammenzug im Frühling.»

Apropos Nebengeräusche. Ihr Vater und eine kosovarische Aktivistin prallten im Rahmen einer TV-Show verbal aufeinander. Die Story kam innert Kürze und am Tag des WM-Achtelfinals in den Schweizer Headlines an. Wie sehr absorbierten Sie diese Schlagzeilen?

«Es ging den Beteiligten um Aufmerksamkeit. Sie hat ein hartes Wort gegen mich verwendet. Es ging plötzlich um die Erziehung meiner Eltern. Ich selber wollte mich nicht dazu äussern. Mein Vater hat sich gemeldet. Die Geschichte wurde grösser dargestellt, als sie effektiv war. Vor vier, fünf Jahren hätte mich eine solche Entwicklung womöglich belastet. Jetzt versuche ich, alles ein bisschen einzuordnen.»

Hätten Sie Ihrem Vater nicht besser geraten, das Thema gar nicht öffentlich aufzugreifen?

«Ganz ehrlich: Wir haben das nicht diskutiert. Er hat von sich aus reagiert. That’s it.»

Überlegt man sich in einer ruhigen Minute auch mal: Brauche ich das alles noch? Oder anders gefragt: Belastet Sie das Getöse rund um das Nationalteam in einem ungesunden Mass?

«Es kommt darauf an, wer sich öffentlich über mich äussert. Das wäge ich schon auch ab. Wer mir seine Wahrheit nie direkt ins Gesicht sagt, der spielt für mich keine Rolle. Das sind für mich Fake-Leute. Auf die habe ich noch nie gewartet und nie gehört - und werde das auch in Zukunft nicht tun. Ich habe 111 Länderspiele gemacht für dieses Land. Darauf bin ich stolz. Wie andere die Fakten beurteilen, liegt nicht in meiner Hand. Aber so schnell werden mich die Kritiker nicht los (lacht).»

Hätten Sie erwartet, dass die SFV-Exponenten sich schützend vor Sie stellen?

«Wir haben uns schon ausgetauscht. Falls der Verband sich äussern will, kann er das natürlich machen. Falls nicht, ist das auch okay. Ich kann mich gut selber schützen. Und irgendwann muss man die Dinge ohnehin abhaken, nach vorne blicken, wieder neue Ziele ins Auge fassen.»

Hilft es, dass Sie mit dem Premier-League-Leader Arsenal nun eine gigantische sportliche Challenge vor der Brust haben, um den WM-Frust zur Seite zu schieben?

«Klar bin ich froh, dass wir bei Arsenal auf einem sehr guten Weg sind. Ich fühle mich uneingeschränkt wohl, geniesse dort enorm viel Vertrauen. Wir haben in London etwas Spezielles vor.»

Haben Sie sich mit Ihrem Klub-Coach Mikel Arteta über die WM unterhalten?

«Wir haben alles besprochen, ja. Er kann mich so gut lesen wie niemand sonst. Mikel weiss, wie es ist, wenn man down ist. Er hat gespürt, wie weh mir die Art und Weise des Ausscheidens getan hat. Aber es gibt noch so viele andere Herausforderungen und Turniere. Die werde ich annehmen.»

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