Der «Brassard-Gate» schwebt über Belgiens Nationalteam
Die EM in Deutschland könnte für Belgien die letzte Chance sein, noch einen Titel mit den letzten Stützen der goldenen Generation zu holen. Doch über dem Team liegt ein Schatten.
Die EM in Deutschland könnte für Belgien die letzte Chance sein, noch einen Titel mit den letzten Stützen der goldenen Generation zu holen. Doch über dem Team liegt ein Schatten.
Am Montag startet Belgien in Frankfurt gegen die Slowakei in die EM. In der Offensive lassen Spieler wie Kevin De Bruyne, Romelu Lukaku und Jérémy Doku das Land träumen. Die Defensive hingegen bereitet Kopfzerbrechen, sie ist ohne Zweifel die Achillesferse der Belgier. Nicht nur ist das Gros der Stammverteidigung angeschlagen. Die WM-Halbfinalisten von 2018 und EM-Viertelfinalisten der letzten beiden Turniere treten an der EM zudem ohne ihren stärksten Torhüter an.
Thibaut Courtois, Champions-League-Sieger mit Real Madrid und zweifacher Welttorhüter des Jahres (2018 und 2022), gehört nicht zum Team. Nicht etwa wegen des Kreuzbandrisses und der Meniskusverletzung, die ihn einen Grossteil der Saison ausser Gefecht gesetzt hatten. Vielmehr geht es um verletzte Eitelkeit.
Es ist eine Situation mit Sprengkraft. Wobei Courtois' freiwilliger Verzicht Belgiens Nationaltrainer Domenico Tedesco gar nicht ungelegen kam. Der Grund, warum Courtois - statt sein Team als Captain anzuführen - nicht in Deutschland dabei sein wird, ist nämlich ein seit Längerem schwelender, teils öffentlich ausgetragener Disput zwischen ihm und dem deutsch-italienischen Coach.
Fahnenflucht wegen Armbinde
«Brassard-Gate» («Armbinden-Gate») nennen die belgischen Medien die Angelegenheit. Seit Tedesco Courtois vor einem Jahr in dessen 102. Länderspiel gegen Österreich die Ehre der Captainbinde verwehrte, will der Goalie nichts mehr von der Nationalmannschaft wissen.
Als Tedesco gesagt habe, dass Lukaku gegen Österreich Captain sei und er im folgenden Spiel gegen Estland, sei etwas in ihm zerbrochen, erklärte Courtois nach seiner Fahnenflucht. Es sei ihm um ein Zeichen der «Wertschätzung» gegangen. «In Madrid habe ich das Gefühl, dass ich von allen im Verein respektiert werde. Bei den Roten Teufeln erlebe ich das nicht wirklich.» Tedesco zeigte sich fassungslos: «Ich bin überrascht und schockiert. Ich habe nicht erwartet, dass so etwas passiert.» Ein Schlichtungsversuch mit einem Besuch Tedescos in Madrid lief ins Leere. Im Dezember holte Courtois gar zum Rundumschlag aus.
Die Affäre hatte nur Verlierer. Courtois brachte einige Teamkollegen gegen sich auf, der Verband und die belgischen Medien verurteilten die «Ego-Krise» des überraschend sensiblen Torhüters. Die Zeitung «Le Soir» bezeichnete das Verhalten als «Laune eines Stars und kindische Haltung, um nicht zu sagen eines verwöhnten Kindes.» Courtois selbst sprach von einem «Vertrauensbruch» und einem «Angriff» des Trainers auf seine Person.
Im Tor der Belgier wird an der EM statt dem Weltklasse-Torhüter Koen Casteels stehen, der mit 31 Jahren vor einem Wechsel von Wolfsburg nach Saudi-Arabien steht. Ein Fehler, und die Diskussion um Courtois wird wieder entfachen - zumal viele in Courtois' Abwesenheit mit Matz Sels als Nummer 1 rechneten. «Für Casteels wird die EM nicht einfach zu bewältigen sein, da er sich bei jedem seiner Auftritte beobachtet fühlen wird. Der kleinste Fehler seinerseits, und in den sozialen Netzwerken ist der Teufel los», warnte der ehemalige belgische Nationalspieler Philippe Albert.
Paraden bei Real, Schonung im Nationalteam
Dass Courtois Ende Mai im finalen EM-Aufgebot der Belgier fehlte, überraschte nicht mehr. Bereits im Dezember hatte der 32-Jährige während seiner Reha angekündigt, auf eine Teilnahme zu verzichten. «Wenn ich Glück habe, kann ich im Mai wieder spielen. Aber selbst dann wäre ich nicht zu hundert Prozent bereit für ein grosses Turnier», liess er damals verlauten. Ende Mai bekräftigte Courtois wiederum, bis zur EM nicht komplett fit zu sein. Er ziehe es deshalb vor, sich zu schonen und sich bestmöglich auf die nächste Saison vorzubereiten.
Die Erklärung überzeugte kaum jemanden, besonders nicht nach Courtois' starker Leistung im gewonnenen Champions-League-Final gegen Borussia Dortmund (2:0). Mit seinen Paraden trug Courtois wenige Wochen nach seinem Comeback dazu bei, dass Real zum sechsten Mal in elf Jahren und zum zweiten Mal mit ihm triumphierte.