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Sion spielt in der DDR - acht Tage vor dem Fall der Berliner Mauer

Im Spätherbst 1989 reist der FC Sion zu einem UEFA-Cup-Spiel nach Karl-Marx-Stadt. Es ist das letzte Europacup-Spiel in der DDR vor dem Fall der Berliner Mauer.

Agentur
sda
14.05.20 - 04:30 Uhr
Fussball

1. November 1989: UEFA-Cup, 2. Runde, Rückspiel. - FC Karl-Marx-Stadt 4, FC Sion 1. - Ausgeschieden: FC Sion. Dies sind auf den ersten Blick nicht Eckdaten, hinter denen sich ein legendärer Europacup-Abend versteckt. Aus Schweizer Sicht war das Duell zwischen dem Team aus der DDR-Oberliga und den Wallisern an jenem Mittwochabend nur eine Randnotiz. Schliesslich schafften gleichzeitig die Grasshoppers dank einem Heimsieg gegen Torpedo Moskau die Qualifikation für die Viertelfinals im Cup der Cupsieger und war der FC Wettingen Stunden zuvor auswärts gegen Napoli nach heroischem Kampf mit viel Pech ausgeschieden.

Trotzdem wurde der Auftritt des FC Sion am 1. November 1989 in Karl-Marx-Stadt zu etwas ganz Speziellem. Bewusst wurde einem dies aber erst später. Im Herbst vor 31 Jahren war die Weltordnung im Umbruch. Der Kommunismus in Osteuropa brach in sich zusammen. Acht Tage nach dem Spiel der Sittener gegen den FCK wurden in der DDR die Grenzen geöffnet. Das machte Karl-Marx-Stadt gegen Sion zum sporthistorischen Ereignis. Es war das letzte Europacupspiel in Ostdeutschland vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.

Nachdem die DDR nach dem 3. Oktober 1990 von der Landkarte verschwunden war, gab es kaum noch internationalen Fussball im Osten Deutschlands. Der 1. FC Union Berlin, heute Bundesligist und trainiert vom Schweizer Urs Fischer, ist der einzige Klub, der schon zu DDR-Zeiten existierte, der sich nach der vollständigen Integration des Fussballs im Osten in den DFB (1992) noch einmal für einen europäischen Wettbewerb qualifizierte - 2001 als Cupfinalist. Erst seit dem Vorrücken des Retorten-Klubs RB Leipzig an die Spitze des deutschen Fussballs sind die neuen Bundesländer kein weisser Fleck mehr auf der europäischen Fussballlandkarte.

Einer hatte die aussergewöhnliche Situation schon unmittelbar nach dem Spiel im Stadion «Ernst-Thälmann-Sportforum» erfasst: Sions Ersatztorhüter Pierre-Marie Pittier nahm die klare Niederlage entsprechend gelassen hin. «An diesem Abend ist das Resultat zweitrangig. Es ist ein spezielles Erlebnis für uns, in diesen Tagen in der DDR zu spielen. Hier wird gerade Weltgeschichte geschrieben», so Pittier.

Dass der damals knapp 35-jährige Pittier in Karl-Marx-Stadt überhaupt dabei war, ist an sich schon fast legendär. Mehr als ein Jahr zuvor hatte er seinen Rücktritt vom Spitzensport gegeben - nicht vom Profisport, denn Profi war Pittier während seiner Karriere nie. Doch weil im Herbst 1989 die Verletzungshexe im Walliser Klub wütete, und auch Stammtorhüter Stephan Lehman und die Nummer 3 Frank Kalbermatter ausfielen - in Karl-Marx-Stadt stand Patrick Tornare im Tor-, wurde Pittier als Ersatzkeeper reaktiviert. Der Legende nach soll Pittier, im Beruf Deutschlehrer am Gymnasium in Sitten, richtiggehend um die Teilnahme an dieser letzten DDR-Reise gebettelt haben.

Reisen in die DDR waren in diesen Tagen erst recht nicht mehr en vogue. Zu Tausenden flüchteten die Menschen via Ungarn und Österreich in den Westen Deutschlands. Als sich am Morgen nach der klaren Niederlage die Delegation des FC Sion aus Karl-Marx-Stadt verabschiedete, sagte der Reiseleiter am Flughafen zu den Wallisern im Scherz: «Wenn ihr den Flieger verpasst, ist das nicht schlimm. Bei uns sind so viele weggegangen, wir können jeden brauchen. Ihr dürft alle gern hier bleiben.»

Dies taten die Sittener natürlich nicht, und in den folgenden Jahren distanzierte der FC Sion den FC Karl-Marx-Stadt, der schon ein Jahr später wieder Chemnitzer FC hiess, sportlich um Längen. Hier die Walliser, die in den Neunzigerjahren zwei Mal Meister sowie vier Mal Cupsieger wurden und im Europacup immerhin Grössen wie Feyenoord Rotterdam, dem FC Porto, Olympique Marseille oder dem FC Liverpool begegneten. Dort der Chemnitzer FC, der nach dem Ende der DDR nie mehr in der höchsten Liga spielte, phasenweise in der Versenkung der deutschen Viertklassigkeit verschwand und von einem 4:1 wie damals im Spätherbst 1989 auf europäischem Niveau nicht einmal mehr zu träumen wagt.

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