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«Die richtigen Prüfungen kommen erst noch»

Vor dem EM-Qualifikationsspiel der Schweizer Frauen-Nationalmannschaft am Dienstag gegen Rumänien schaut Captain Lia Wälti im Interview auf ein spezielles Jahr 2019 zurück.

Agentur
sda
12.11.19 - 08:00 Uhr
Fussball
Captain Lia Wälti strebt mit der Schweizer Frauen-Nationalmannschaft die Teilnahme an der EM-Endrunde 2021 in England an
Captain Lia Wälti strebt mit der Schweizer Frauen-Nationalmannschaft die Teilnahme an der EM-Endrunde 2021 in England an
KEYSTONE/SALVATORE DI NOLFI

Mit dem Heimspiel gegen Rumänien in der EM-Qualifikation endet am Dienstag in Schaffhausen das Jahr 2019 für die Frauen-Nationalmannschaft. Captain Lia Wälti von Arsenal schaut auf ein spezielles Jahr zurück, das für die SFV-Familie Veränderungen und Trauer brachte und in dem die WM in Frankreich gesellschaftliche Diskussionen auslöste.

2019 war für die Frauen-Nationalmannschaft insofern speziell, als das es für die SFV-Familie Veränderungen und Trauer brachte und in dem die WM in Frankreich gesellschaftliche Diskussionen auslöste.

Gesellschaftspolitisch wird 2019 aufgrund des Frauenstreiktags und der weiblichen Erfolge bei den Parlamentswahlen im Oktober vom Jahr der Frauen gesprochen. War 2019 auch ein Jahr des Frauenfussballs?

Lia Wälti: «Aus internationaler Sicht aufgrund der WM sicherlich. Dass sich etwas bewegt, hat man auch am Wochenende gesehen, als knapp 80'000 Zuschauer im Wembley das Spiel England gegen Deutschland verfolgten. Aus nationaler Sicht war 2019 weniger ein Jahr des Frauenfussballs, weil wir am Turnier in Frankreich gefehlt haben.»

Die WM hat viel Aufmerksamkeit generiert und Diskussionen weit über das Fussballfeld hinaus angestossen. Sind Veränderungen spürbar?

«In meinem Alltag in England hat sich nichts geändert. An Medientagen kommen aber mehr Leute als vorher, die Zuschauerzahlen steigen seit Jahren, gelegentlich wird nun auch in Männerstadien mit teilweise über 30'000 Zuschauern gespielt. Das zeigt, dass der Frauenfussball interessiert, diesen müssen wir aber noch besser promoten. Wir haben attraktive Teams in der Liga wie Tottenham, Liverpool, Manchester United oder Arsenal - Namen, welche die Leute anziehen.»

Sind diese Entwicklungen bei Ihnen in der Garderobe von Arsenal ein Thema?

«Ja, wobei es spannend ist, wie unterschiedlich es in den einzelnen Ländern zu und her geht. Bei den Holländerinnen ist extrem, was abgeht. Die können nicht durch den Flughafen gehen, ohne 50 bis 100 Fotos machen zu müssen. Sie erleben eine komplett andere Welt. Bei ihnen ist es ähnlich wie bei den Männern, weil sie in den letzten Jahren so erfolgreich waren. Das zeigt, dass es keine Rolle spielt, wie gross oder wie viele Einwohner ein Land hat. In England hingegen sind die Spielerinnen relativ unbekannt.»

Wäre so etwas wie in den Niederlanden auch in der Schweiz möglich?

«Die Ausgangslage ist eine andere. Holland hat eine unglaubliche Fan- und Fussballkultur, wenn ein Turnier ansteht, ist die ganze Stadt orange. In der Schweiz gibt es zwar auch viele Fussball-Fans, aber nicht so viele wie in anderen Ländern. In der Super League sind die Stadien teils halb leer, nicht jedes Länderspiel der Männer ist ausverkauft.»

Was bedeutet das für die Schweizer Frauen-Nationalmannschaft?

«Mit Erfolg gewinnt man Zuschauer. Wir müssen uns für die Endrunden qualifizieren, damit unsere Spiele live im Fernsehen übertragen werden und das Medieninteresse steigt. Wir müssen den Frauenfussball zu den Leuten bringen, mit unseren Leistungen den Startschuss geben, damit irgendwann die Medienpräsenz auch zwischen den Turnieren nicht verschwindet. Momentan ist es ein extremes Auf und Ab.»

Sportlich ist die Mannschaft in der EM-Qualifikation mit drei Siegen aus drei Spielen auf Kurs. Wo steht sie?

«Wir haben einen guten Start hingelegt und bislang die Pflicht erfüllt. Die Mannschaft hat etwas Zeit gebraucht, auch weil zu Beginn viele Spielerinnen fehlten. Gegen Kroatien (2:0) hat in der ersten Halbzeit sehr vieles gut funktioniert, diese Leistung müssen wir nun regelmässig abrufen. Wir sind sicher weiter als im Januar. Wir haben eine interessante Mannschaft mit vielen jungen Spielerinnen, die bei guten Klubs spielen. Die richtigen Prüfungen kommen aber erst noch.»

Seit 2019 wird die Mannschaft von Nils Nielsen betreut, der auf Martina Voss-Tecklenburg folgte. Was hat sich geändert?

«Fussballerisch nicht viel. Die Philosophie ist ähnlich, wir möchten viel Ballbesitz, schnell nach vorne spielen, viele Torchancen kreieren. Neben dem Platz sind die beiden sehr unterschiedliche Typen. Martina brachte uns die typische deutsche Mentalität bei, auf den Platz gehen und immer gewinnen wollen. Sie hat uns weniger Verantwortung übergeben. Bei Nils ist mehr Eigenverantwortung gefragt, er legt einen Rahmen fest, alles andere ist uns überlassen.»

Wie hat die Mannschaft den Rücktritt von Captain Lara Dickenmann verkraftet?

«Wir konnten uns daran gewöhnen, weil wir ja bereits im letzten Herbst auf sie verzichten mussten. Lara zu ersetzen ist individuell schwierig, was man vor einem Jahr in der WM-Barrage gegen Holland gesehen hat, als uns ihre Routine und ihre Qualitäten fehlten. Ihr Rücktritt ist aber auch eine Chance für junge Spielerinnen, eine wichtige Rolle im Team einzunehmen. Eine wie Géraldine Reuteler kann mit ihrem Können in die Fussstapfen von Lara treten, sie hat gemerkt, dass das Team sie braucht, obwohl sie erst 20 ist.»

Mit Florijana Ismaili verstarb ein Mitglied des Teams im Juni bei einem Badeunfall. Wie sehr beschäftigt das Unglück die Mannschaft noch?

«Im Team ist dies kein Thema mehr. Wir haben aber immer eine Kerze und Bilder von Florijana mit dabei. Und wenn jemand das Bedürfnis hat, darüber zu sprechen, kann sie dies jederzeit mit unserer Sportpsychologin tun.»

Sie selber haben aufgrund einer Knieverletzung ein schwieriges Jahr hinter sich.

«Obwohl ich die halbe Saison gefehlt habe und sich die Genesung lange hingezogen hat, überwiegen für mich die positiven Dinge. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Komfortzone verlassen und den Schritt zu Arsenal (Im Sommer 2018 - Red.) gemacht habe. Wir sind verdient Meister geworden und jetzt in der Champions League. Eine Verletzung kann einen auch stärker machen, man lernt es zu schätzen, wenn man gesund ist und einem nichts weh tut.»

Wie vergleichen Sie das Leben zwischen Potsdam und London?

«In England geht es professioneller zu und her. Der Tag ist ausgefüllt mit Training, da die meisten nicht noch arbeiten oder studieren. In Sachen Lebensqualität gefiel es mir in Potsdam besser, weil das Leben dort eher dem Schweizer Alltag entsprach. London ist für mich etwas »too much«. Aber wenn man sich einmal eingerichtet hat, fühlt man sich wohl - egal wo.»

Ihr Arsenal-Klubkollege Granit Xhaka löste vor zwei Wochen eine heftige Debatte aus, als er nach einer Auswechslung ausgepfiffen wurde und darauf mit abwertenden Gesten gegenüber den Fans reagierte.

«Es tut mir leid für ihn. Er wurde seit Wochen unfair behandelt, eine solche Reaktion ist menschlich, auch wenn sie vielleicht nicht die richtige war. Ich war teils selbst im Stadion, als er ausgepfiffen wurde. Wenn die Fans nicht hinter dir stehen und dich zum Buhmann für die aktuelle Situation des Klubs machen, löst das in dir etwas aus. Ich hoffe, er kann die richtige Antwort geben und mit Leistung die Fans zurückgewinnen.»

Sind solche Debatten die extremen Auswüchse des Männerfussballs?

«Den Druck, den die Männer haben, kann man nicht nachempfinden. Ich fordere mehr Fortschritte für uns Frauen in gewissen Bereichen; mehr Zuschauer, mehr finanziellen Support. Aber diese Aufmerksamkeit, welche die Männer haben, ihr Geld und diesen Druck möchte ich nicht. Sie können kaum raus, ohne überall angesprochen zu werden. Dieses Leben kann zwar sehr schön sein, wenn es gut läuft - aber mental sehr schwierig, wenn es schlecht läuft.»

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