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Der Felsbrocken ist weg

Manuela Schär bestreitet an den Paralympics in Paris ihre letzten Bahnrennen. Die 39-jährige Luzernerin tut dies nicht mit Wehmut, sondern dem Ziel, noch einmal eine Medaille zu gewinnen.

Agentur
sda
31.08.24 - 04:00 Uhr
Sport
Manuela Schär bestreitet ihre letzten Rennen auf der Bahn
Manuela Schär bestreitet ihre letzten Rennen auf der Bahn
KEYSTONE/ENNIO LEANZA

Manuela Schär tut in den letzten Monaten etwas, das sie schon oft getan hat. Sie bereitet sich auf Paralympics vor. Zum sechsten Mal startet sie in Paris unter den paralympischen Agitos. Die 39-Jährige hat viel Erfahrung. Sie weiss, was ihr Körper braucht, damit sie dann, wenn es zählt, ihre Bestleistung abrufen kann.

Und doch: Irgendwann bei den zahllosen Trainingsstunden auf der Bahn in Nottwil oder in der Trainingshalle nebenan auf der Rolle merkt Schär, dass sich die Vorbereitung auf den prestigeträchtigen Grossanlass diesmal anders anfühlt. Dass ein «Felsbrocken», wie sie ihn nennt, plötzlich nicht mehr auf ihren Schultern lastet.

Die Luzernerin sitzt Ende Juli in der Trainingshalle in Nottwil, als sie gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA Einblick gibt in ihre Gefühlswelt. Sie blickt zurück auf die schwierigen Jahre. Auf 2012, als sie nach enttäuschenden Paralympics in London, wo sie ohne Medaille blieb, sich die Sinnfrage stellte. Sich fragte, ob sie sich dem unerbittlichen Vier-Jahres-Zyklus, in dem paralympische Athletinnen leben, wirklich weiter hingeben mochte. Auch 2016, als sie aus Rio de Janeiro erneut ohne Edelmetall abreiste.

Befreiung in Tokio

Es sind Erlebnisse wie diese, welche die Last des imaginären Felsbrockens auf ihren Schultern schwerer werden lassen. Denn trotz zahlreicher Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften, trotz zwei Bronze- und einer Silbermedaille bei den Paralympics 2004 und 2008, trotzdem, dass sie nach ihrer Neufokussierung nach 2012 auf Langstrecken zu einer der erfolgreichsten Marathon-Athletinnen überhaupt geworden ist - etwas fehlt lange in Manuela Schärs Medaillenschrank: eine paralympische Goldmedaille.

Vor ziemlich genau drei Jahren kann Schär diese Scharte bei den Paralympics von Tokio gleich doppelt auswetzen. Erst holt sie Gold über 800 m, vier Tage später triumphiert sie über 400 m. Dank drei weiteren Silbermedaillen wird sie in Japan zur fleissigsten Medaillensammlerin in der Schweizer Delegation. Doch viel wichtiger ist für Schär, dass eine Lücke in ihrem Palmarès endlich geschlossen ist.

«Es ist mega schön, dass der Druck weg ist, eine Goldmedaille gewinnen zu müssen», sagt sie. Ihr Trainer Claudio Perret, der sie seit zwölf Jahren begleitet, formuliert es im Hinblick auf sportliche Zielsetzungen so: «Manuela muss nichts mehr und darf eigentlich alles.» Schär weiss, dass sie sich für die Paralympics in Paris sehr stark unter Druck gesetzt hätte, wäre der Goldtraum noch unerfüllt, dass eben gewissermassen ein Felsbrocken auf ihren Schultern gelastet hätte. Denn sie weiss auch, dass sie in der französischen Hauptstadt ihre letzten Rennen auf der Bahn bestreiten wird.

Los Angeles im Hinterkopf

Ein Entscheid, der über eine längere Zeit gereift ist. Schon nach den Spielen in Tokio habe sie sich überlegt, ob sie sich nur noch dem Marathon zuwenden soll, sagt sie. Schär merkte, dass sie immer noch Lust verspürte, sich auf der Bahn zu messen. Doch nun ist die Rollstuhl-Leichtathletin in ihrer Karriere in der Phase angekommen, die alle Spitzensportlerinnen einmal einholt - egal, wie schnell sie vorher über eine Tartanbahn geflitzt sind.

Sie macht Dinge, die ihr Leben zuvor über Jahrzehnte geprägt haben, zum letzten Mal. Im Mai stand Schär letztmals beim Leichtathletik-Meeting ParAthletics in Nottwil an der Startlinie - und verbesserte sogar eine persönliche Bestzeit. Nun wird sie in Paris einige weitere letzte Male erleben. Erstmals am Samstag über 5000 m, dann über 800 m, 1500 m und schliesslich am 5. September über 400 m.

«Es fühlt sich stimmig an», sagt Schär. «Es war klar, dass ich irgendwann kürzer treten würde, und es war auch klar, dass ich das stufenweise machen wollte.» Auf der Marathon-Strecke wird sie auch nach Paris anzutreffen sein, schliesslich hat sie nach drei Major Marathons als Führende aktuell gute Karten, die prestigeträchtige Marathonserie, die in Tokio, Boston, London, Berlin, Chicago und New York Halt macht, zum vierten Mal zu gewinnen. So lange es ihr so gut laufe und ihr der Marathon so viel Spass mache, werde sie sicher weiterfahren, sagt Schär, die bewusst nicht davon gesprochen hat, in Paris ihre letzten Paralympics zu bestreiten. Denn wenn sie sich gut fühlt, kann sich die Luzernerin durchaus vorstellen, auch 2028 in Los Angeles am Marathon-Start zu stehen.

Triumphfahrt auf den Champs-Elysées

Doch in unmittelbarer Zukunft steht nun erst einmal der paralympische Marathon an, der am 8. September entlang der Champs-Elysées führt und bei der Esplanade des Invalides endet. Er liefert den bildgewaltigen sportlichen Abschluss der 17. Paralympischen Spiele.

Vielleicht wird Manuela Schär an diesem Tag die Möglichkeit haben, wie in Tokio erneut ihre fünfte Medaille dieser Paralympics zu gewinnen. Vielleicht wird sie mit der Goldmedaille über die 42,195 km ein weiteres Ausrufezeichen in ihren eindrücklichen Leistungsausweis setzen. Die Athletin selbst bleibt zurückhaltend: «Zum Abschluss einer Bahnkarriere noch einmal so einen 'Plämpu' zu gewinnen wäre cool und würde mich mega stolz machen.»

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