Denn sie sehen nicht, wohin sie dribbeln
Am Fusse des Eiffelturms wird Blindenfussball gespielt. Ein Augenschein einer Sportart zwischen Party und Andacht.
Am Fusse des Eiffelturms wird Blindenfussball gespielt. Ein Augenschein einer Sportart zwischen Party und Andacht.
Die Ränge des Stade Tour Eiffel sind in der heissen Pariser Mittagssonne bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Fans auf den provisorischen Stahltribünen, die auf der einen Seite des Champs-de-Mars aufgestellt wurden, versuchen, sich mit Fächern in Frankreichs Nationalfarben etwas kühlere Luft zuzuwedeln, in der Hoffnung auf zumindest eine kleine Abkühlung. Doch das Schwitzen wird belohnt mit dem Blick auf eine spektakuläre Kulisse.
Da, wo während der Olympischen Spiele die Beachvolleyball-Turniere der Frauen und Männer ausgetragen wurden, ist jetzt Blindenfussball angesagt. Der Sand, in dem Tanja Hüberli und Nina Brunner Bronze holten, ist immer noch da, aber abgedeckt von einem grossen, blauen Teppich, der das 40 m x 20 m Spielfeld bildet und von Banden umgeben ist.
Acht Teams sind Teil dieses paralympischen Turniers. Den Anfang machen am Sonntag Japan und Kolumbien, danach kommen Marokko und Argentinien aufs Feld. Wie bei den sehenden Fussballern ist die «Albiceleste» amtierender Weltmeister. Die Argentinier sicherten sich im letzten Jahr in Birmingham den Titel im Penaltyschiessen gegen China und sorgten damit für eine Überraschung.
Denn eigentlich ist ein grosser Rivale das Mass aller Dinge des Blindenfussballs. Brasilien ist fünffacher Weltmeister. Richtig deutlich wird die Dominanz der Seleçao aber auf paralympischer Bühne. Seit 2004 in Athen ist Blindenfussball Teil des Programms, nie haben die Brasilianer eine Partie verloren. Am Sonntagabend steigen sie mit einem souveränen 3:0 gegen die Türkei in ihre Mission der sechsten Goldmedaille bei Paralympics. Es ist der 27 Sieg im 27 Spiel unter den paralympischen Agitos.
Die Schläge für die Pfosten
Ist Blindenfussball also vor allem Samba und Party, wie an der Copacabana? Könnte man meinen. Doch ein Augenschein am Fusse des Eiffelturms zeichnet ein anderes Bild dieser Sportart, die irgendwann in den 1920er Jahren in Spanien ihren Ursprung hat. Vier Feldspieler und ein Torhüter stehen auf dem Feld. Um spielen zu dürfen, müssen alle Feldspieler blind sein. Alle decken ihre Augen mit einer Augenbinde ab.
Der Torhüter ist als Einziger sehend oder nur leicht eingeschränkt in seiner Sehfähigkeit. Das ist essenziell, weil dem Goalie die wichtige Aufgabe zuteil wird, seine Teamkollegen auf dem Feld zu dirigieren, zu beschreiben, wo sich der Ball befindet und welche Richtung am besten gerannt werden soll, um an den Gegenspielern vorbeizukommen.
«Izquierda» ruft da der kolumbianische Torhüter etwa, wenn er einem Spieler den Ball möglichst genau in die Füsse zu werfen versucht, dieser aber von der Bande weg prallt. Bei der Mittellinie hat jedes Team einen Helfer platziert, der bei der Orientierung unterstützen soll. Und hinter dem anzugreifenden Tor ebenfalls. Bei einem Freistoss holt dieser dann einen Stab hervor und klopft mehrmals auf die beiden Pfosten. Durch das Geräusch soll der Schütze ein Gefühl dafür bekommen, wohin er schiessen muss.
Das Dilemma der Fans
Zwischen Kolumbien und Japan steht es 0:0. Immer wenn ein Spieler in die Gefahrenzone dringt oder wuchtig in eine Bande prallt, geht ein Raunen durch die Ränge, das unmittelbar wieder mit einen rauschenden, langgezogenen «Schschsch» unterbunden wird. Es ist ein Dilemma, mit dem sich die Zuschauerinnen und Zuschauer konfrontiert sehen. Einerseits ist da der Wunsch, mitzugehen mit dem Geschehen, die Spieler anzufeuern, zu klatschen, wenn ein Dribbling gelingt, laut auszurufen und die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, wenn ein Ball nur Zentimeter am dreieinhalb Meter breiten und gut zwei Meter hohen Tor vorbei zischt. Ganz so, wie sie das eben vom Fussball kennen.
Andererseits wissen sie, dass die Stille ein wichtiges Element des Blindenfussballs ist. Sie ist essenziell dafür, dass sich die Spieler auf dem Feld orientieren können. Eben durch die Anweisungen der Goalies und Helfer, aber auch durch eine Glocke, die im Ball eingearbeitet ist und dafür sorgt, dass der Ball hörbar ist. Manchmal ruft der Schiedsrichter «Silence», worauf der Speaker die rund 10'000 Fans auffordert, still zu sein.
Nur Sekunden später kann derselbe Speaker aber die Anwesenden dazu auffordern, ein «maximum de bruit» zu machen, also so laut wie möglich zu sein. Dann nämlich, wenn ein Team ein Timeout nimmt und Tänzerinnen eine Choreografie zu Liedern von Macklemore und Taylor Swift aufführen.
Blindenfussball ist also nicht nur Samba und Copacabana. Es ist ein starker Kontrast zwischen lauter, ausgelassener Dauerbeschallung einer Bravo-Hits-Party und andächtiger Stille in einer riesigen Kathedrale, die am Fusse des Eiffelturms kaum an einem eindrucksvolleren Ort hätte errichtet werden können. Am Samstag wird der paralympische Champion gekürt.