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Ungarn legt eine Italienerin in Ketten

Die menschenunwürdige Behandlung einer italienischen Linksaktivistin in einem Gefängnis von Budapest entsetzt die italienische Öffentlichkeit ­und sorgt für eine diplomatische Verstimmung.

Südostschweiz
30.01.24 - 18:40 Uhr
Schweiz & Welt
Blickt zu ihm auf: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni trifft Ende 2022 am Rande des EU-Rats ihren ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán, den sie sich stets als politisches Vorbild nimmt.
Blickt zu ihm auf: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni trifft Ende 2022 am Rande des EU-Rats ihren ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán, den sie sich stets als politisches Vorbild nimmt.
Bild Olivier Hoslet / Keystone

von Dominik Straub

Ein Paar weisse Turnschuhe, umschlossen von schweren Metallfesseln, die mit einem kurzen schwarzen Lederband verbunden sind, damit die Gefangene gerade noch selber gehen kann. Dieses Bild aus einem Saal des Stadtgerichts von Budapest prangte gestern auf den Frontseiten von fast allen grossen italienischen Zeitungen. Die Schuhe gehören Ilaria Salis, einer 39-jährigen Linksaktivistin und Grundschullehrerin aus Mailand. Auch ihre Hände waren gefesselt. Sie wurde an einer Eisenkette in den Gerichtssaal geführt, bewacht von zwei vermummten und bewaffneten Sicherheitsbeamten. «Sie behandeln meine Tochter wie ein Tier», erklärte der Vater der Gefesselten, Roberto Salis, bei der Gerichtsverhandlung in der ungarischen Hauptstadt.

Vorwurf: Angriff auf Neonazis

Die Italienerin war im vergangenen Februar verhaftet worden, weil sie an einer Demonstration gegen eine rechtsextremistische Gedenkveranstaltung teilgenommen hatte und dabei, so lautet die Anklage der ungarischen Staatsanwaltschaft, auf zwei Neonazis losgegangen sei und diese verletzt habe. Beteiligt an den Zusammenstössen zwischen Linksradikalen und Rechtsextremen waren auch einige deutsche Linksaktivisten. Zwei von ihnen wurden ebenfalls von der ungarischen Polizei festgenommen und sind im gleichen Prozess angeklagt wie die Italienerin.

Gegen Salis hat die ungarische Staatsanwaltschaft Anklage wegen Körperverletzung und Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung erhoben. Ihr droht eine Gefängnisstrafe von bis zu 24 Jahren. Salis bestreitet die gegen sie erhobenen Vorwürfe vehement und ist von ihren angeblichen Opfern auch nicht angezeigt worden. Die beiden deutschen Angeklagten haben laut italienischen Medienberichten am Montag in einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingewilligt: Sie gestanden ihre Beteiligung an den Ausschreitungen und kamen mit einer Strafe von drei Jahren Gefängnis davon. Der Prozess gegen Salis wird im Mai fortgeführt.

Vorführung entsetzt Italien

Die Bilder ihrer gefesselten und angeketteten Landsfrau haben in Italien einen Aufschrei der Empörung ausgelöst, zumal schon zuvor Details über ihre unmenschlichen Haftbedingungen publik geworden waren. Seit ihrer Verhaftung vor knapp einem Jahr befindet sich die Linksaktivistin in Isolationshaft. Ihre Eltern durften sie erst nach sieben Monaten ein erstes Mal besuchen. In einem Brief berichtete die Gefangene von ihrer nur drei Quadratmeter grossen Zelle, in der es von Bettwanzen, Mäusen und Kakerlaken wimmle. Des Weiteren würden ihr keine Tampons oder Binden zur Verfügung gestellt. Sie müsse sich während der Menstruationsblutung jeweils mit Watte behelfen. Auch die Verpflegung spotte jeder Beschreibung.

Die Veröffentlichung der Fotos aus dem Gerichtssaal haben zu einer diplomatischen Verstimmung zwischen Rom und Budapest geführt. Der italienische Aussenminister Antonio Tajani bestellte den ungarischen Botschafter ein. Auf der Plattform X forderte Tajani die ungarische Regierung auf, dafür zu sorgen, dass die von der EU vorgesehenen Rechte der Angeklagten respektiert werden. Justizminister Carlo Nordio wiederum versicherte, dass Italien alles unternehmen werde, um die Haftbedingungen von Ilaria Salis zu erleichtern.

Meloni zeigt keine Reaktion

Tajani gehört der Partei Forza Italia an, Nordio ist parteilos. Aus der grössten Regierungspartei, der von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni angeführten postfaschistischen Fratelli d’Italia, ist der menschenrechtswidrige Umgang mit Salis in Ungarn bisher nicht kommentiert worden. Sowohl Meloni als auch die Parteizentrale blieb stumm. Der Grund liegt auf der Hand: Meloni hat den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán stets als leuchtendes politisches Vorbild bezeichnet. Und so hat die Rechtsregierung in Rom für Antifa-Aktivistinnen wie Salis bis vor Kurzem keinen Finger gerührt, wie der Vater der Gefangenen beklagte.

«Sie behandeln meine Tochter wie ein Tier.»

Roberto Salis, Vater der in Ungarn inhaftierten Italienerin Ilaria Salis

Doch nun wird sich Meloni entscheiden müssen, auf welcher Seite sie steht. Auf derer ihrer Landsfrau, die in Ungarn ihrer elementarsten Rechte beraubt wird oder auf die ihres Vorbildes Orbán, der diese Rechte mit Füssen tritt. Für den ehemaligen Premier Matteo Renzi, heute Chef einer kleinen Mittepartei, ist die Sache jedenfalls klar: «Meloni muss Orbán anrufen, und zwar sofort. Es ist völlig inakzeptabel, dass eine italienische Staatsbürgerin wie ein Hund an einer Kette in einen ungarischen Gerichtssaal gezerrt wird.»

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